Zwischen Fahrradweg und Computerauto

Stadtplaner und Verkehrspolitiker suchen verzweifelt nach Auswegen aus dem europaweiten Verkehrsinfarkt  ■ Von Florian Marten

Ob Passau oder Palermo, ob Bergen oder Barcelona, ob Prag oder Paris — die europäischen Städte ertrinken im Verkehr. Egal welche Verkehrspolitik die jeweilige Stadt in den letzten 50 Jahren betrieb, ob Stadtautobahnen, Umgehungsstraßen oder Parken auf der Piazza — das Ergebnis heißt heute: Rien ne va plus. In Osteuropa, wo der Stadtstraßenbau längst nicht so gewütet hat wie im reichen Westen, wird derzeit Stadtstraßenbau alten Stils betrieben — am wildesten in den fünf neuen Bundesländern, die einen ganz erheblichen Teil ihrer Westmilliarden in kommunale Straßenbauprojekte pulvern. Die öffentlichen Verkehrsbetriebe werden geschwächt, die traditionellen Stadtgrundrisse zerstört, das Auto ist im Vormarsch. Doch hart getroffen hat es auch die Verkehrsplaner des reichen deutschen Nordwestens. Sie mußten erkennen, daß jahrzehntelange Milliardeninvestitionen oft noch schlimmere Probleme produzierten als ein verkehrspolitisches far niente. Das Problem ist identifiziert: Es hat vier Räder, stinkt, braucht ein bis zwei Tonnen Masse, um 75 kg zu transportieren, belegt schon im Zustand der Inaktivität zehn Quadratmeter innerstädtischen Bodens — und das bei Quadratmeterpreisen von vielerorts bis über 30.000 Mark. So schlicht das Problem, so vielfältig, komplex und oft verwirrend die Lösungsstrategien. Straßenbau ist vielfach total out, selbst Umgehungsstraßen lassen sich kaum noch durchsetzen. Doch die Betonfraktion hält dagegen. Sie setzt jetzt auf Tunnelbau (wie jüngst die 600 Millionen für einen Kilometer in Düsseldorf) und Park & Ride-Anlagen (mit Baukosten pro Stellplatz von bis zu 80.000 Mark). Wichtigste Bremse für diese Strategie ist das Geld: Nur ganz wenige reiche Ballungsräume können sich diese Investitionen leisten. Auf „intelligente“ Verkehrssysteme setzt eine wachsende Zahl von Städten, unterstützt dabei durch die Europäische Gemeinschaft. Hinter den EG-Programmen „Prometheus“, „Drive“ und „Polis“ versteckt sich der Traum, mit Elektronik das herkömmliche Auto sicherer und das vorhandene Straßennetz leistungsfähiger zu machen. Vollgestopft mit teurer und lukrativer Elektronik soll sich das Auto Informationen über Satellit und per Erdfunk holen, von der elektronischen Landkarte bis zur Vernetzung mit lokalen Verkehrsrechnern. Der informierte Autofahrer, so die hoffnungsfrohe Ideologie, könne sich dann endlich „vernünftig“ verhalten. Geforscht wird aber auch an halb- bis vollautomatischen Steuerungssystemen. Die FahrerIn gibt das Ziel an, ein regionaler Zentralcomputer steuert das Fahrzeug, zum Beispiel über Funk oder Induktionsschleifen in der Straße. Selbst die Befürworter dieser Strategie räumen ein, daß diese Systeme nur wenig wirkungsvoll sind. Sie können die Leistungsfähigkeit eines vorhandenen Straßennetzes allenfalls um zehn bis 30 Prozent steigern. Die verschiedenen Preisstrategien legitimieren sich gern als „die Einführung der Marktwirtschaft im Verkehr“. Knapper Stadtraum und die negativen Umweltauswirkungen sollen von den Verkehrsteilnehmern bezahlt werden. Extra-Steuern (Nahverkehrsabgabe) und Stadtzölle sind im Gespräch (in Bergen und Oslo schon Praxis). Die Spanne reicht von einer drastischen Verteuerung des Parkraums über Zugangszölle, die Nahverkehrsabgabe bis zur Forschung an Systemen, die jedes Fahrzeug erfassen und nach Ort, Tageszeit, Weglänge und Schädlichkeit besteuern — bezahlt würde wie bei der Telefonrechnung. Die ganz einfache Methode einer drastischen Benzinpreiserhöhung hat derzeit keine Aussicht auf Verwirklichung: Die EG würde sie wegen Wettbewerbsverzerrung verbieten.

Die Umweltverbund-Strategien sehen vor, daß öffentliche Verkehrsmittel und Muskelkraft (Fuß und Rad) das Auto ersetzen, gegenüber dem Auto bevorzugt werden. Vielerorts werden die Städte von der autofreundlichen zu einer Umweltverbund-freundlichen Stadt umgebaut. Der Straßenraum wird umverteilt, öffentliche Verkehrsmittel bekommen Vorrang. Die weltweite Renaissance der Straßenbahn, zumeist als modernde Stadtbahn auf eigenem Gleiskörper, ist sichtbarer Ausdruck dieser Umorientierung. Die U-Bahnen kriechen aus den Höhlen, in die sie das Auto verbannte, wieder ans Tageslicht. Ganz up to date sind Konzepte der „Individualisierung“ öffentlicher Verkehrsmittel: Sammeltaxis und Anrufbusse sollen die Vorzüge der individuellen Motorisierung in ein öffentliches System übertragen (es lebe das Istanbuler Sammel-Taxi?!). Die integrierte Verkehrspolitik steckt erst in den Kinderschuhen, obwohl eine wachsende Zahl von Stadtplanern in ihr die einzige wirkliche Zukunftschance sieht. Die schlichte Erkenntnis: Die Wege müssen kürzer werden. Es muß Schluß sein mit der entmischten Stadt, mit Vorortringen, Zersiedlung und Arbeitswüsten. Zielbild ist die „kompakte Stadt“, eine zukunftsweisende neue Urbanität, in der sich die Menschen ohne Auto, aber mit ausgereifter Technologie bewegen (Schienenverkehrsmittel, Rufbusse, Fahrrad). Dabei geht es nicht um die autofreie Stadt, sondern um eine Stadtorganisation und ein Leben in der Stadt, bei dem Autos nicht mehr gebraucht werden. In der Stadtverkehrsrealität des heutigen Europa spielen derart ganzheitliche Ansätze bislang noch keine Rolle. Sie haben die Reißbretter und Vortragsmanuskripte der StadtplanerInnen noch nicht verlassen.