Typographische und konstruktive Wunderwelten

■ Lajos Kassák — Ein Protagonist der ungarischen Avantgarde im Haus am Lützowplatz

Wer im vorlauten Großstadtrauschen mal ruhigere Töne hören oder leisere Bilder sehen will, kann das in dieser Stadt. Wer also — die Bildende Kust betreffend — einmal das eher Kontemplative und gleichzeitig am Anfang der sogenannten Avantgarde stehende Bemühen um andere Ausdrucksformen kennenlernen will, der gehe in die »Obere Galerie« genannten Ausstellungräume des Kunstamtes Tiergarten im Haus am Lützowplatz. Hier werden vom 1. Oktober Werke des ungarischen Aktionisten, Künstlers, Schriftstellers und Förderers Lajos Kassák (1887-1967) ausgestellt.

Kassák gehört in die erste Reihe derjenigen ungarischen Künstler, die sich aktiv und inspirierend in die modernistischen Strömungen zu Anfang der zwanziger Jahre eingemischt haben. Sein 1922 geschriebenes Manifest Bildarchitektur beginnt so programmatisch wie fast jedes Manifest dieser Jahre: »Nieder mit der Kunst! Hoch die Kunst!« Seien es die Äußerungen der italienischen Futuristen, der russischen Konstruktivisten, der holländischen De-Stijl- Bewegung, die Programme des frühen Bauhauses oder eben die der ungarischen oder anderer osteuropäischen Aktionisten — sie alle bedienten sich ähnlicher Lyrismen, um das »Neue« und »Heute« zu propagieren. Gleichzeitig versuchten sie, in ihren Bildwerken zeitgemäße Ausdrucksformen zu erfinden, weiterzuentwickeln und anzuwenden.

Wenige der genannten Kreise aber verschrieben sich dabei derart heftig einer revolutionären Lebenseinstellung wie die um Lajos Kassák sich sammelnde Gruppe »MA« (= heute), wobei die antimilitaristische und sozialistische Weltanschauung zwar den Antrieb bildete, aber nie als platte und hohle Phrase in den Bildern erscheint. Vielmehr meinte man für die Propagierung einer »neuen Gesellschaft« und ihrer Ideale auch eine »neue Bildsprache« erfinden zu müssen. Daß sich die Künstler dieser Zeit genau darin täuschten: nämlich daß gerade die am wenigsten mit diesen einfachen konstruktiven Formen anfangen konnten — die Proletarier —, die mit ihnen angesprochen werden sollten, verweist einmal mehr auf den Umstand, daß sich Kunst eben nicht so einfach funktionalisieren läßt.

'MA‘, eine Zeitschrift, die Kassák im November 1916, also noch vor van Doesburgs Zeitschrift 'De Stijl‘ und den -zig später, in den zwanziger Jahren ins Leben gerufenen ähnlichen Zeitschriften gründete, erschien bis 1925 und bündelte und propagierte auf vielfältigste Weise die Bestrebungen der genannten Bewegungen. Und auch mit seiner — gemeinsam mit Lászlo Moholy-Nagy herausgegebenen — Anthologie Buch Neuer Künstler (Wien 1922) ist er Vorreiter für heute weit bekanntere »modernistische« Unternehmungen dieser Zeit und dieser Art, wie z.B. die von Lissitzky/Arp zusammengestellten Kunst-Ismen von 1925.

Die Liste der Verdienste, mit denen Kassák immer wieder in die Debatte um das neue Wollen eingriff, ist auf jeden Fall zu erweitern um den Aspekt seines Kampfes für eine Erneuerung der ungarischen Sprache: ob als Dichter oder als Literaturtheoretiker — die moderne ungarische Sprache verdankt diesem Mann Wesentliches. In den sechziger Jahren war er einer der bekanntesten und anerkanntesten ungarischen Schriftsteller: Er veröffentlichte regelmäßig Gedichtbände, in denen er die er- und gefundenen Sprachelemente souverän handhabte. In dieser Zeit malte Kassák auch wieder Bilder, in denen er die frühen konstruktiven Bildelemente weiter in Richtung einer Geometrisierung von Farbflächen entwickelte. In seiner Frühzeit, den zwanziger Jahren, waren ihm die Urelemente, die kleinsten Bausteine der Sprache — die in Buchstaben gesetzten Laute nämlich — immer wieder auch Material für seine wunderbaren typographischen Arbeiten, die sich in Buchumschlägen, in seinen Zeitschriften und in Plakaten niederschlugen; ganze Generationen — bis heute — sind von diesen Arbeiten beeinflußt.

In der Ausstellung sind gerade diese Werke zu sehen. Die einfache und gediegene Repräsentation in den weißen Räumen — wirklich überhaupt kein Schnickschnack, eigentlich überhaupt keine Repräsentation, sondern nur Ausstellung/Hängung pur — weisen einmal mehr auf die gestalterische Kraft dieser meist in den Primärfarben gehaltenen und vor allem recht kleinformatigen Arbeiten hin. Zu sehen, wie hier mit dem Quadrat, dem Balken, dem Kreis und deren Kombination in der horizontal/ vertikalen oder diagonalen Ausrichtung umgegangen, gespielt und fast heiter jongliert wird — das macht einfach Freude. Seine Suche nach einer neuen Bilder-Sprache führte ihn 1921/22 auch zu seinen Bildarchitektur genannten Werken: gemalte Konstruktionen, die in ihrer Plastizität und Geometrie versuchen, das Tafelbild aufzuheben, um so eine selbständige Körperlichkeit eben als Bild- Architektur zu sein. Hier versuchte er auch die Verbindung zur gebauten Architektur herzustellen: In der Ausstellung findet man Modelle von Kleinarchitektur (z.B. einen Kiosk), die nach der gleichen Geometrisierung und Durchdringung einfacher kubischer Körper konsturiert sind.

190 Werke verzeichnet die Liste der ausgestellten Arbeiten. Wie gesagt: ganz leise abstrakte Farbspiele, klein, heiter und doch mit souveräner Geste auf der Klaviatur konstruktiver Kunst gespielt. Martin Kieren

Eine Ausstellung im Rahmen des Festivals »Grenzenlos«. Obere Galerie im Haus am Lützowplatz, bis 10. November, tägl. außer montags, 11 bis 18 Uhr