Kreuzberger Kleingewerbe bald verdrängt

■ Studie des Vereins SO36: Miete-Verdopplung bei neuen Verträgen/ Ex-Baustadtrat Orlowsky fürchtet soziale Verwerfungen

Berlin. Der boomende Grundstücksmarkt in Berlin hat Kreuzberg erfaßt. Die Gewerbemieten steigen rasant, die Häuser wechseln immer häufiger den Besitzer. Mietsteigerungen bis zu 650 Prozent stellte der Verein SO36 im Rahmen einer Untersuchung fest, deren Ergebnisse er gestern vorlegte.

Mitarbeiter des Vereins hatten über 200 Gewerberaumnutzer im Kiez zwischen Landwehrkanal, Kottbusser Tor und Spree befragt. Ergebnis: Knapp die Hälfte von ihnen hat seit 1989 einen neuen Mietvertrag erhalten, verbunden mit zum Teil drastischen Mieterhöhungen. Jeder zweite Ladenbesitzer muß mehr als zehn Prozent Steigerung verkraften, für 16 Prozent hat sich die Miete verdoppelt bis versechsfacht.

1990 machte die Industrie- und Handelskammer bei einer ähnlichen Untersuchung im Bezirk Kreuzberg noch eine durchschnittliche Steigerung der Gewerbemieten von 13,5 Prozent aus, die Tendenz ist also steigend. Für den Verein ist klar, daß es nicht nur »schwarze Schafe« sind, die die Preise in die Höhe treiben. Die Spekulation hat generell Einzug im 36er-Kiez gehalten.

Die höchsten Mietsteigerungen sind häufig mit einem Wechsel der Hauseigentümer verbunden. Für den Verein ist dies ein Beleg dafür, daß die Verkaufspreise der Häuser wesentlich in die Höhe gegangen sind. Galt vor der Maueröffnung noch die Faustregel, daß ein Haus zum sechs- bis zwölffachen Wert der Jahreskaltmiete verkauft wird, so ist diese Rate mittlerweile in Kreuzberg in manchen Fällen bis aufs Vierzigfache gestiegen. Die Kapitalkosten, die dadurch dem Neubesitzer entstehen, werden offensichtlich direkt auf die Mieten abgewälzt. Die Eigentümer schauen halt, so Regine Schütz vom Verein, wie weit sie gehen können. Und sind die Mieten einmal angehoben, würden sie nicht mehr reduziert.

Als Konsequenz registrieren die Vereinsmitarbeiter eine Veränderung der Ladennutzungen im hinteren Kreuzberg. Die für den Kiez so typische Ladenwohnung wird es bald nicht mehr geben, auch die Zahl der Handwerks- und Kulturprojektläden geht zurück. Stattdessen ist eine Zunahme von Dienstleistungen aller Art, wie Reisebüros, Fahrschulen und Gaststätten zu beobachten. Allerdings konnte die häufig befürchtete Ausbreitung von Sexshops und Spielhallen nicht verzeichnet werden.

Diese Veränderungen werden nach Einschätzung des Vereins noch zunehmen, denn bis 1993 muß gut ein Drittel der Gewerberaumnutzer neue Verträge aushandeln. Zwar existieren für die finanziell Schwachen bislang noch genügend bezahlbare Ausweichquartiere, doch befürchtet der ehemalige Baustadtrat von Kreuzberg, Werner Orlowsky, einen verstärkten Verdrängungsprozeß. Die Kreuzberger Mischung droht einzugehen, denn viele Betriebe des produzierenden Gewerbes sehen sich wegen der steigenden Mieten mittelfristig zu einem Standortwechsel veranlaßt. Es wird, so Orlowsky, »zu politischen und sozialen Verwerfungen kommen, bei denen Gewalt als Form der Auseinandersetzung wieder eine zunehmende Rolle bekommen kann«. Um das zu vermeiden, fordert der Kreuzberger Lokalpolitiker einen ganzen Katalog von Maßnahmen zur Begrenzung der Gewerbemieten, angefangen bei der nachbarschaftlichen Konfliktregulierung in Streitfällen bis hin zur Ausfüllung des Verfassungsgrundsatzes der Sozialpflichtigkeit des Eigentums. dr