Unsichtbare hinter der Mauer

Der Golfkrieg hat die Gewaltspirale zwischen Israelis und PalästinenserInnen noch weiter gedreht, unter der die Frauen in besonderer Weise zu leiden haben. Ihre Kinder wiederum wachsen als eine Kriegsgeneration heran; die Erwartungen der Erwachsenen lasten auf ihnen. Und alle Beteiligten des jüdisch-palästinensischen Konfliktes können in der dauernden Anspannung nur leben, indem ihre Wahrnehmung Teile der Realität ausblendet.  ■ VON UTE SCHEUB

Die Stirn demütig an die steinalten Quader des höchsten Heiligtums der Juden gepreßt, die Schultern züchtig mit einem Tuch bedeckt, steht eine Gruppe von Frauen in der Glut der Sonne. Das Murmeln ihrer Gebete steigt in die tiefblaue Luft über Jerusalem. Nebenan ihren Männern wird mehr Platz gelassen, und sie dürfen im kühleren Schatten weilen, wo sie Zettelchen mit ihren geheimen Wünschen zwischen die Ritzen der vieltausendjährigen Klagemauer stecken.

Nur wenige Meter entfernt beginnt eine völlig andere Welt. Und doch ist sie dieselbe, mit zumindest denselben Wurzeln. Der Vorplatz zum Felsendom mit der goldenen Kuppel, dem drittwichtigsten moslemischen Heiligtum, ist für Juden tabu, soll sich dort doch das allerheiligste Innere ihres allerersten und zweiten Tempels befunden haben. Davon blieb angeblich nur eine Mauer, die Klagemauer. Für die Moslems indes ist dort Mohammed auf seiner Stute gen Himmel geritten — just auf dem Stein, auf dem Abraham, gemeinsamer Stammvater der jüdischen, moslemischen und christlichen Patriarchen, seinen Sohn Isaak opfern wollte. Einige Frauen, in sittsame Gewänder verhüllt, den Stoff bis über die Nasenspitze gezogen, berühren mit scheuer Ehrfurcht die nach Weihrauch duftenden Hufspuren, die Mohammeds Pferd im Inneren des Doms hinterließ. Auch ihnen wies Allahs Prophet den schlechteren Platz in den Moscheen zu.

Nur auf diesem kleinen Raum wird sie zum ersten und einzigen Mal materiell, die Mauer, die unsichtbar das ganze Land Israel durchschneidet. Hier, im heiligen Herzen Jerusalems, trennt sie als Klagemauer die gläubigen Scharen der Weltreligionen, die doch so viel gemeinsam haben. Ein wahrhaft symbolischer Ort, der sich fortsetzt als unsichtbare Mauer der religiösen Apartheid, die jede einzelne jüdische Familie von jeder einzelnen moslemischen trennt. Eine Mauer, hinter der für die einen Demokratie beginnt und für die anderen Staatsterrorismus.

1. Die Opfer

Nashla aus Lod zum Beispiel. Lod, das früher ein arabisches Dorf war und Lud hieß, liegt in der Nähe von Tel Aviv, im israelischen Kernland also. Nashla, vielleicht 45 Jahre alt und von einer charakterstarken Freundlichkeit, ist eine von jenen, in deren Ausweis das Wort „nicht jüdisch“ vermerkt ist. Die Mutter von acht Kindern wohnt unter beengten Verhältnissen in einem palästinensischen Slumviertel, das von so viel schöneren jüdischen Häusern umgeben ist. „Ich bin nicht gegen die Juden“, sagt sie mit fester Stimme, „ich bin gegen die Diskriminierung.“ Nashla würde gerne arbeiten gehen, aber es gibt hier, im Gegensatz zu „drüben“ in der jüdischen Siedlung, keinen Kindergarten. Noch schlimmer findet sie jedoch die strikte Trennung zwischen den arabischen und den jüdischen Schulen, die rund achtmal mehr finanzielle Zuwendung erhalten. „Gemischte Schulen wären ein Garant für den Abbau von Vorurteilen“, davon ist Nashla, die Elternvorsitzende in der Schule ihrer Kinder, zutiefst überzeugt. Die Trennung der Kinder, sagt sie, lege den Grundstein zur Diskriminierung — zu jener unsichtbaren Mauer quer durch das Land. Auf jeden Fall zementiert sie die Sprachbarrieren, die Unkenntnis, die Ignoranz und die Angst voreinander.

Ein kleines Mädchen drückt sich an eine Mauer, es lächelt scheu, sein Blick im schmutzigen Gesichtchen ist seltsam trüb. Im Alter von vier Monaten, so erzählen die BewohnerInnen, wurde es von einer Ratte angefallen. Sie hatte sich in den vier Quadratmeter großen Raum geschlichen, den sich sechs Personen teilen müssen — eine Mutter und fünf Kinder. Elendes Lod hinter der unsichtbaren Mauer.

Wie so viele hier wurde auch Nashlas Familie gleich mehrmals zur Flucht gezwungen: im Unabhängigkeitskrieg 1948, im Suezkrieg 1956 und im Sechstagekrieg 1967, als die Westbank, Gaza und die Golanhöhen von der israelischen Armee besetzt wurden.

1948, 1956, 1967 — jedes jüdische Kind kennt diese Daten als Jahreszahlen ruhmreicher Siege. Markieren diese doch, zumindest in den Augen der HeimkehrerInnen aus der Diaspora und der Überlebenden des Holocaust, die jahrhundertelang herbeigesehnte Umkehr in der Geschichte der Verfolgung und Ermordung von Juden. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges hatten sich viele traumatisierten Überlebenden und ihre Familien geschworen, niemals mehr wehrlose Opfer zu sein. Den Schmerz, das Leid, die verinnerlichte, verdrängte Gewalt, die sie mitbrachten, all das war made in Germany, auch wenn heute in Deutschland nicht gern an diesen Aspekt erinnert wird.

2. Die Opfer der Opfer

Doch da fragt sich Rita Giacaman, palästinensische Feministin aus der besetzten Westbank, warum ihr Volk eine deutsche Suppe auslöffeln muß: „Um die Probleme, die in Europa entstanden waren, zu lösen, sollte einem Volk ohne Land ein Land ohne Volk gegeben werden. Der Haken dabei war, daß in dem Land sehr wohl ein Volk lebte, und zwar schon seit Hunderten von Jahren, und das Volk waren wir.“ Die PalästinenserInnen als Opfer der Opfer.

Wenn die etwa vierzig Jahre alte Rita zu reden beginnt, dann bricht das Temperament mit ihr durch, ihre dunklen Augen leuchten auf. Zusammen mit ihrer nicht minder wortgewaltigen Freundin Sahar Khalifa, der international bekannten Schriftstellerin, sucht Rita Giacaman nach neuer feministischer Theorie und Praxis jenseits der männerdominierten PLO. „Die Unabhängigen“, so werden sie deshalb im ganzen Land gern genannt.

„Seit der Intifada“, berichtet Rita, „vor allem im ersten Jahr des Aufstands, haben die palästinensischen Frauen sich neues Selbstbewußtsein erkämpft: Sie spielten eine wichtige Rolle in den Nachbarschaftskomitees, auf den Straßen, in der mittleren Führungsebene der Intifada.“ In der nationalen Leitung seien jedoch bis heute keine weiblichen Mitglieder. Die einzige Möglichkeit, das zu ändern, sei die Ausbildung von Frauen zu einer Art femininistischer Kader. Und deshalb haben Rita und Sahar vor gut einem Jahr in der Stadt Nablus das „Womens Affairs Center“ gegründet, das erste palästinensische Institut für Frauenforschung und -ausbildung, in dem Kurse über Soziologie, feministische Theorien, Frauenstudien, kreatives Schreiben, Methodologie und anderes mehr angeboten werden.

Ein hoffnungsfrohes Projekt, gewiß, aber in einer geradezu hoffnungslosen Zeit. Nach dreieinhalb Jahren Intifada, die von praktisch jeder Familie finanzielle und menschliche Opfer abverlangte, und nach anderthalb Monaten totaler Ausgangssperre im Golfkrieg, die Verelendung und Massenarbeitslosigkeit verursachte, ist der Alltag in den besetzten Gebieten zur Hölle geworden. Nadja, eine junge Deutsche mit palästinensischen Vater, berichtet eine Geschichte von Tausenden: Als sie mit ihrer Tante im Auto durch Nablus gefahren sei, habe ein Jeep voller Soldaten einen anderen Wagen vor ihnen ohne ersichtlichen Grund gestoppt. „Dort saßen zwei ältere palästinensische Herren drin. Einer von den Soldaten stürzte sich sogleich auf den Fahrer, packte ihn am Kragen und ohrfeigte ihn. Ein Akt grundloser Demütigung.“

Die Erniedrigung, die Hakima erlebte, eine 38jährige Behindertenlehrerin aus Al-Bireh in der Westbank, war noch schlimmer: Fünf Monate lang wurde sie in Administrativhaft gehalten, bevor man sie am Tag ihres Prozesses entließ, weil man ihr nichts nachweisen konnte. „Ich wurde abends verhaftet und mit einem Sack über dem Kopf in das Untersuchungsgefängnis von Jerusalem gebracht“, berichtet Hakima, immer wieder schüchtern lächelnd, als müsse sie sich für die Belästigung entschuldigen, so viel von ihrer Person zu erzählen. „Dort haben sie mich in eine Zelle in jenem Trakt gesteckt, in dem der Shabak, der Geheimdienst, seine Verhöre macht. Niemand, nicht einmal Shamir, darf diese Zellen sehen. Ich war zwanzig Tage lang in diesen Einzelzellen. Mehrmals zwischendurch wurde ich in den ,Schrank‘ gesperrt, eine Zelle, die nur 75 mal 75 Zentimeter breit, dunkel und stinkig ist, die Wände sind naß, und man kann die Beine nicht ausstrecken. Dort ließ man mich einmal 16 Stunden ohne Wasser. Oder ich wurde in das ,Grab‘ gebracht, ein ebenfalls so kleines, enges, feuchtes Loch, daß ein dicker Mensch darin nicht überleben kann. Die ,normalen‘ Zellen sind alle völlig verdreckt, mit Schwärmen von Wanzen und verrotteten Essensresten, statt einer Toilette gibt es nur ein Loch im Boden, und wenn man nicht will, daß das Ungeziefer dort herauskriecht, muß man das Loch mit der Bettdecke schließen. Als ich meine Periode bekam, gab es keine Binden zum Wechseln und praktisch kein Waschwasser.“

Hakima leistete ihre Art von Widerstand gegen die Inhaftierung und den Schmutz: Zwei Wochen lang aß und trank sie nicht mehr. Sie verlor 18 Kilo Gewicht und konnte vor Schwäche nicht mehr laufen. Vergeblich fühlte man ihr den Puls — er schien nicht mehr vorhanden. Ein Arzt zwang sie, zehn Gläser Wasser auszutrinken. Doch kaum war der Puls wiedergekehrt, schickte er sie zurück zum Verhör.

Wie hat sie es geschafft, die schöne Frau unter dem weißen Kopftuch, wieder so lächeln zu können? Vielleicht hilft ihr, was sowohl die palästinensische als auch die jüdische Kultur kennzeichnet: die strikte Trennung zwischen Außen und Innen, zwischen gewaltförmiger Gesellschaft und möglichst heilem Familienleben, zwischen den Brutalitäten auf der Straße und der gastfreundschaftlichen Herzlichkeit zu Hause. Dicke Vorhänge, die selbst am hellichten Tag zugezogen bleiben, schützen auch das Haus von Hakima und ihrer Großfamilie vor der Außenwelt. Drinnen herrscht eine Atmosphäre gedämpften Friedens.

Ihre Cousine Masina, ein 16jähriges, selbstbewußtes Mädchen mit lockigen Haaren, wurde fast gleichzeitig mit Hakima verhaftet und zwei Wochen lang gefoltert. „Ich wurde in den Hof des Geheimdiensttraktes gebracht, dort mußte ich den ganzen Tag in verkrümmter Stellung auf einem Schemel sitzen oder liegen, die Arme in Handschellen nach hinten gebogen und mit den gefesselten Füßen verbunden, und mit einem Sack über dem Kopf. Das ging 14 Tage lang so, ob bei Regen oder Sonne. Manchmal haben sie mich auch im Flur oder an eine Wasserleitung angekettet. Und dann hieß es immer: Wenn du nichts aussagst, geht das immer weiter so, das macht uns nichts aus.“

Einmal, erzählt Masina, drohte einer der Verhörer sogar, sie zu vergewaltigen. Doch Masina reagierte unerwartet, anders als viele traditionell erzogene Frauen, für die die befürchtete Entehrung das Schlimmste ist. „Wir konnten uns ja nie waschen in unseren Zellen, schon nach wenigen Tagen haben wir gerochen. Also habe ich meine Jacke ausgezogen: ,Hier, bitteschön.‘ Ich wußte genau, wie sehr ich stinke.“

Solche Drohungen und Mißhandlungen, sagt Michal, jüdische Mitarbeiterin der Hilfsorganisation „Women for Women Political Prisonners“, seien weitverbreitet. Es gebe noch schlimmere Fälle: Etliche Frauen seien beim Verhör geschlagen worden und hätten dabei ihr Kind verloren, eine Palästinenserin habe ihr Baby in Handschellen gebären müssen. Jedes Jahr durchliefen Tausende von PalästinenserInnen Verhör- und Foltertrakte der Gefängnisse.

Wo bleiben da die Gefühle ihrer Bewacher und Verhörer? Hinter welche Mauer werden sie gedrängt? Die jüdischen Schriftstellerinnen Rolly Rosen und Ilana Hamerman befragten Soldaten, die in ihrem dreijährigen Militärdienst auch Gefangene bewachten. „Wenn ich jemanden schlage oder Leute festnehme, dann mache ich sofort dicht“, antwortete einer, der sich selbst links im politischen Spektrum einordnet. „Ich isoliere mich von meinen Gefühlen, wenn ich Gefangene in meiner Obhut habe. Vollständig.“ Ein anderer, ebenfalls „linksgerichtet“, gibt zu, Inhaftierte zu schlagen: „Wir tun es alle. Ich meine, nicht jeder... aber auch Leute, die im Kibbutz aufgewachsen sind.“

3. Die Opfer der Opfer der Opfer

Man sieht sie überall, die Soldaten. Ganz besonders viele stehen am Eingang zum Gaza-Streifen. Vor den großen Steinblöcken, die die Durchfahrt versperren. In den Wachtürmen. Unter Sonnenzelten am Straßenrand. Hinter Sandsackwällen, MG im Anschlag. Im 1967 besetzten Gaza-Streifen, 45 Kilometer lang und fünf bis acht Kilometer breit, wohnen, dicht an dicht, rund 700.000 Menschen, die Hälfte davon Kinder. Der Gaza-Streifen gehört nicht nur zu den größten Slums der Welt, sondern ist womöglich auch der größte Knast der Welt.

Nur noch eine Minderheit der PalästinenserInnen darf das Lager verlassen. Die Anzahl derjenigen, die jeden Morgen um drei Uhr aufstehen und in stundenlang schüttelnden Bussen nach Israel hineinfahren, um dort mit amtlicher Erlaubnis zu arbeiten, ist mit dem Golfkrieg von 60.000 auf 20.000 gesunken; die neuen EinwandererInnen aus Äthiopien und der Sowjetunion ersetzen die billigen palästinensischen Arbeitskräfte. Dafür aber ist die Zahl derer rapide gestiegen, die von der Militärverwaltung statt des orangefarbenen nur einen grünen Ausweis bekommen haben. Grün, das heißt: Ausreise nicht gestattet. Grün, das bedeutet für den kontrollierenden Soldaten: Vorsicht, hier steht jemand, der schon mal mit der Polizei oder der Justiz zu tun hatte. Achtung, eine politische Aktivistin. Oder ein Journalist. Hier materialisiert sie sich erneut, die unsichtbare Mauer. Da sei es doch ehrlicher, wenn „das vereinigte Deutschland Teile der Berliner Mauer nach Palästina und Israel schickt“, so daß Schamirs Regierung sie zwischen den besetzten Gebieten und Israel wiederaufbauen könne, zürnt da der Journalist und „greencard“-Besitzer Ali Jariri.

Gaza hinter der unsichtbaren Mauer ist ein einziges geronnenes Gewaltverhältnis: hastig aufgebaute und schon wieder zerstörte Häuser, Bretterhütten, gesprengte Gebäude, offene Abwasserkanäle, zugemauerte Straßen, Wachtürme, Stacheldraht. Hier kann nichts anderes wachsen und sich spiralförmig drehen als Aggression und Gegenaggression. Hier grassiert die Gewalt hemmungslos auch zwischen den Unterdrückten.

„In Gaza ist es inzwischen für Frauen gefährlich geworden, ohne

Kopftuch herumzulaufen“, erzählen Palästinenserinnen, die sich vorsichtshalber verhüllen. „Tagtäglich“ wachse hier in der völligen Frustration die Fundamentalistenbewegung, deren Mitglieder sich nicht scheuten, „unzüchtig“ bekleidete Frauen mit Eiern oder gar Steinen zu bewerfen. Tagtäglich geht es wieder rückwärts, werden die Anfangserfolge der palästinensischen Frauenbewegung zunichte gemacht. „Erst gestern“, so berichtet einer der völlig überlasteten Ärzte in einem der acht Flüchtlingslager von Gaza, habe er eine Frau mit Gesichtsverätzungen behandeln müssen — Angehörige der „Hamas“-Bewegung hatten der Unverschleierten Säure ins Antlitz geschüttet. Vergeblich hatte die nationale Intifada-Leitung in ihren monatlichen Flugblättern solche Gewaltakte gegen Frauen schon mehrfach verurteilt — „Hamas“ ist nicht Mitglied der nationalen Leitung.

Die extrem hohe Arbeitslosigkeit, so eine palästinensische Journalistin, tue ihr übriges, um die Probleme der Frauen zu verschärfen. Die Männer hätten einfach zuviel Zeit, die sie in zunehmende soziale Kontrolle investieren würden. Aus „Achtung gegenüber den Märtyrern“ sei den Familien aus Gaza einer ihrer letzten Freuden untersagt worden: das Baden am Mittelmeerstrand. Die Kinos und Theater in den besetzten Gebieten sind schon lange geschlossen, und selbst Hochzeiten dürfen nur noch in bescheidenem Rahmen gefeiert werden. Und wenn Männer ihre Ehefrauen und Kinder schlagen, tun sie das nach Beobachtung von Eyad ElSarraj, Direktor des Psychiatrischen Dienstes von Gaza, ebenfalls vorgeblich „im Namen der Disziplin“.

Die Frau, so heißt es auch in aufgeklärteren Kreisen der Intifada, gehöre nicht auf die Straße, sie sei dazu da, die zukünftigen Helden zu gebären. Die Mädchen werden mit dreizehn und vierzehn Jahren verheiratet und haben zu produzieren: oftmals zehn, zwölf, vierzehn Kinder. „Wir brauchen die Kinder für den Kampf“, befindet eine junge PLO- Sympathisantin. Sei das nicht furchtbar für die Frauen? „Unsere Frauen sind stark“, lächelt sie.

Sind sie das? Oder sind sie auch nur Opfer der Opfer der Opfer? Opfer des Männlichkeitskultes? In einem der kleinen Selbsthilfeprojekte in den besetzten Gebieten, in dem die PLO-nahen „Frauenaktionskomitees“ selbstgefertigtes Kunsthandwerk verkaufen, hängen bunte Emaillebilder: Embryos, die schon im Mutterleib die Palästinafahne umklammern. Die Frauen, Heldinnen der Gebärschlacht, sind sichtbar stolz auf diese gräßlichen Bilder. Denn nicht zuletzt geht es um die zukünftige demographische Vorherrschaft in Israel-Palästina: Bislang, ohne die neuen Immigranten, stehen rund 3,3 Millionen Juden gut 2 Millionen Palästinensern gegenüber. Die Bäuche der Palästinenserinnen als Waffe gegen die Einwanderungspolitik der Regierung Shamir.

Und wie kommen die Kinder mit der Überforderung klar, die Entscheidungsschlacht schlagen zu müssen, mit dieser Bürde, die ihnen Väter und Mütter auferlegen?

4.Die Opfer der Opfer der Opfer der Opfer

Großer Menschenauflauf im Gaza- Flüchtlingslager Nusseirat: ein Festakt zu Ehren eines vor zwei Jahren gestorbenen Palästinenserführers und der jüngsten „Märtyrerfamilie“ des Camps. Eine aufgebrachte Menge, darunter der 16jährige Hussein, hatte einige Tage zuvor das Haus eines vorgeblichen Kollaborateurs gestürmt. Der Bedrohte, oder irgend jemand anders aus seiner Familie, zückte eine Handgranate: Hussein starb, 24 andere wurden verletzt.

Nun sitzt der Vater Husseins in einem zeltartigen Vorbau. Hier haben nur die Männer Zutritt, und zu Hunderten sind sie gekommen, um Abu Jussif zu gratulieren: Glückwunsch, Hussein ist den Märtyrertod gestorben. Im Haus der Familie hingegen drängeln sich die Frauen, manche klagend und weinend, manche mit den großen Augen des Entsetzens. Man meint, ihnen ansehen zu können, daß auch die Verklärung des Opfers zum Märtyrer und Helden, dieser Versuch, das Leid abzuspalten, umzuwandeln, hinter die große Mauer zu sperren, daß dies alles den Schmerz nicht restlos stillt. Der älteste Sohn, er wird nicht wieder auferstehen.

Der Zweitälteste wird geholt. Nun muß er Husseins Stelle einnehmen. Mit verängstigten Augen steht er zwischen den Frauen. Eine legt ihm, feierlich, langsam, das Palästinensertuch wie eine Fahne um die schmächtigen Schultern, eine zweite zupft es zurecht, eine dritte schiebt das Kind noch weiter vor ins allgemeine Bestaunen. Armer Junge.

Draußen, in der Helle der staubigen Straße, haben sich Hunderte von Kindern aus der Nachbarschaft versammelt, fast alles Jungen. Ihre Blicke, scheu und mißtrauisch, verfolgen jede Geste der Fremden. Die Gesichter sind fleckig, strohig die Haare: Spuren der Unter- und Fehlernährung.

Und dann sind sie doch wieder neugierig, wie alle Kinder der Welt: Kreischend und lärmend verfolgen sie die Besucher. Plötzlich ein Pfiff, dort von der Hauptstraße, heftige Unruhe, die Kinder bücken sich: Ein Jeep voller israelischer Soldaten rast die Lagerstraße entlang. Alles geht blitzschnell: von überallher Steine, Steine, Steine, Vierjährige, Sechsjährige, Zehnjährige schmeißen, was sie kriegen, ein backsteingroßer Brocken trifft das Autofenster, es kracht, scheppert, Funken sprühen. Und noch einmal zwei Jeeps, und noch einmal eine Ladung hinterher. Und dann lachen sie alle, die Kinder, ihre Mütter, die Männer, die Autofahrer hupen ein Freudengehupe, alle Spannung ist verflogen in diesem kurzen vergänglichen Augenblick des Triumphes. Das sind die vielleicht noch die einzigen Glücksmomente im Flüchtlingslager, eine schlimme Art des Glücks.

Doch die Soldaten werden wiederkommen. Wahrscheinlich nach 20 Uhr, wenn die allabendliche Ausgangssperre die Straßen leergefegt hat. In den ersten drei Jahren der Intifada bis Ende 1990, so verkünden die letzten verfügbaren Zahlen der in Gaza tätigen UN-Flüchtlingsorganisation UNRWA, wurden 12.500 PalästinenserInnen interniert, 106.000 ernstlich verwundet und 892 getötet, davon 54 Prozent Kinder unter 14 Jahren.

„Die Kinder der Intifada“, sagt der Gaza-Psychiater Dr. Eyad ElSarraj, seien einzigartig, weil „Opfer und Helden gleichzeitig“. Studien belegten, daß die Kinder aus dem spannungsgeladenen Gaza gewalttätiger und aggressiver seien als anderswo. Andererseits seien die palästinensischen Kinder — lies: Jungen — imstande, die Autoritäten auch bei offener Gefahr aktiv herauszufordern und ein „hochgradig positives Bild von sich selbst“ zu entwickeln, eine Art „Schild gegen negative psychologische Effekte“. So wie die kleinen Jungen hier überall, die den Besuchern stolz die von Zusammenstößen herrührenden Wunden vorführen.

Dieses Selbstbewußtsein, schreibt ElSarraj in einer Studie, sei erst durch die Intifada entstanden. Die Repression in den Jahren davor habe ein Gefühl tiefer Hilflosigkeit im palästinensischen Volk erzeugt. Jenes Gefühl von „Hilf- und Schutzlosigkeit in einer extrem stressigen Umgebung“ forme „enge und regressive Identitäten“ mit einem großen Hang zu Aggressivität und Selbstzerstörung. Eine hohe Zahl von Selbstmorden, Drogendelikten und auch Autounfällen in Gaza seien deutliche Indizien. Zu Beginn des Aufstands seien diese Phänomene indes genauso wie die innerpalästinensische Gewalt zurückgegangen. Doch dafür, so ergänzt er, „beunruhigen uns neue Probleme der geistigen Gesundheit. In den letzten Wochen haben wir eine ganze Anzahl von Kindern mit Zeichen extremer Angst angetroffen; manche reagierten phobisch und wollten ihr Zuhause nicht verlassen; manche litten unter Schlaflosigkeit; andere zeigten Verhaltensänderungen. Bei den meisten gibt es dafür eine gemeinsame Ursache: Sie haben gesehen, wie ihre Eltern oder älteren Geschwister geschlagen wurden und hilflos in Agonie fielen. Für ein Kind ist es am schlimmsten, sein Idol oder Beschützer in solchen Umständen zu sehen.“

ElSarraj schrieb seine Studie vor drei Jahren. Damals schon beunruhigte ihn noch ein anderer Gedanke: „Wenn die Intifada ihre Ziele der Freiheit und Unabhängigkeit nicht erreicht, gibt es möglicherweise einen scharfen Rückschlag, in dem Frustration und Wut mehr Gewalt produzieren.“ Nunmehr, nach dreieinhalb Jahren vergeblichen Aufstands und den demütigenden Erfahrungen des Golfkriegs scheint die Befürchtung des Arztes eingetroffen zu sein: In den letzten Monaten starben mehr Menschen durch palästinensische als durch israelische Hand. Sie wurden umgebracht, weil sie der Kollaboration mit der Besatzungsmacht beschuldigt worden waren. Die „Südafrikanisierung“, die gewaltförmige Zersetzung aller menschlichen Beziehungen, ist in vollem Gange.

Wird sich die Gewaltspirale also immer weiterdrehen, weiter und weiter? Dies befürchtend, schlugen palästinensische Intellektuelle vor kurzem Alarm. Der Journalist Adnan Demiri, der acht Jahre lang in einem israelischen Gefängnis gesessen hatte, brach das Tabu, über die Morde an vermeintlichen oder tatsächlichen Kollaborateuren zu sprechen. Der Traum der Intifada, so schrieb er, „wurde zum Alptraum. Der Gott, den wir erfunden haben, wurde zu einem Satan, der uns auffrißt. Ich habe verstanden, daß die Diktatur nicht nur eine politische Form der Machtausübung ist, sondern eine Idee, die in unseren Köpfen lebt.“ Demiris Artikel eröffnete die Möglichkeit zur Diskussion, die dann, öffentlich und unter Fernsehkameras, im Ostjerusalemer El-Hakawati-Theater stattfand. Es gehe nicht darum, die Intifada zu stoppen, hieß es dort, es gehe aber um andere, bessere, menschenfreundlichere Kampfformen.

Auch auf der jüdischen Seite gibt es Bewegung. Die in arabischsprechenden Medien geschilderten Erfahrungen von Folteropfern hatten jahrelang keine Chance, durch die unsichtbare Mauer zu dringen, aber die Veröffentlichung entsprechender Fälle im März dieses Jahres durch das jüdische „B'Tselem“-Dokumentationszentrum für Menschenrechtsverletzungen löste einen mittleren Schock aus. „Wir müssen uns fragen, was die Polizeigewalt auch mit uns, der israelischen Gesellschaft, auf lange Sicht anstellt“, schreibt der Psychologieprofessor Charlie Greenbaum in einer B'Tselem-Dokumentation über Gewalt gegen Minderjährige. „Gewöhnung“, „Rechtfertigung“ und vor allem „Verleugnung“ seien hier die gängigsten Abwehrmechanismen. „Was ich nicht weiß, das existiert nicht. Also gibt es keinen Grund, warum wir uns vorstellen müssen, wie es für einen Jungen ist, in einem ,Grab‘ von 60 Zentimeter Höhe und 80 Zentimeter Weite eingeschlossen zu sein. Die ernstesten und gefährlichsten Auswirkungen“, so glaubt er, gebe es jedoch „weder bei den Minderjährigen noch bei der Polizei, sondern bei uns, die wir nichts wissen wollen.“

Bevor die Mauer des Schweigens, des Hasses und des Krieges nicht durchbrochen wird, vielleicht auch mit ein wenig Mithilfe aus dem Land, in dem die Gewalt begann, werden beide Völker nicht in Frieden leben können.