Vom Nachttisch geräumt: Wahrsagen

In seiner Pariser Rechenschaft von 1926 zählt Thomas Mann Alfred Baeumlers Bachofen-Einleitung zu den Werken eines „revolutionären Obskurantismus“, vor dem er warnen möchte. Er sieht „das Problem der Revolution gestellt, das heute in seiner Zwiespältigkeit und Doppelgesichtigkeit die Köpfe derart verwirrt, daß das Abgestorbenste als wunder wie anziehende Lebensneuigkeit sich vermummen kann und gröbste völkische Reaktion durch eine tendenziöse Wissenschaftlichkeit, die ,zurückbleibende Humanität‘ mit einem revolutionären Achselzucken glaubt abfertigen zu dürfen.“ Mann sieht in Baeumler einen der philosophischen Köpfe der völkischen Bewegung. Er hatte wohl recht. Immerhin wurde Baeumler im Herbst 1934 Referent für Wissenschaft im Amt Rosenberg. Seine im selben Jahr erschienenen Aufsätze Männerbund und Wissenschaft zählen zu den klassischen Zitatsteinbrüchen, wenn es um die Geschichte der Nazifizierung der Wissenschaft geht. Jetzt ist ein Buch erschienen, das die Geschichte etwas kompliziert. Den Autoren gelingt es, plausibel zu machen, daß zum Zeitpunkt der Mannschen Attacke Baeumler bei weitem nichts Völkisches im Sinne hatte, ja, daß Thomas Mann an vielen Stellen das Gegenteil dessen gelesen, was Baeumler geschrieben hatte. Hinzu kommt, wie jeder Thomas Mann-Leser weiß, daß die Ansichten, die er Baeumler vorwirft, den seinen von ein paar Jahren zuvor zum Verwechseln ähneln. Ein wunderschönes Verwirrspiel. Hat Thomas Mann nur projiziert? Hat er Baeumler besser verstanden als der sich selbst? Aus Sympathie? Kritik? Wie verhalten sich Projektion, Sympathie, Kritik, Erkenntnis, Einsicht? Das Buch liefert dazu keine Antworten. Es macht nur unsicher. Um so besser.

Marianne Baeumler, Hubert Brunträger, Hermann Kurzke: Thomas Mann und Alfred Baeumler · Eine Dokumentation. Königshausen & Neumann, 262 Seiten, 48 DM