"Freibier statt Rheumatismus"

■ Betr.: "Wider die konkrete Utopie", Kurzessay zu "Lebe wild und gefährlich", taz vom 5.6.91

betr.: Reinhard Mohr: „Wider die konkrete Utopie“, Kurzessay zu Jutta Ditfurths „Lebe wild und gefährlich“, taz vom 5.6.91

Wahrlich, die „Attraktivität“ des Begriffs der konkreten Utopie ist ungebrochen; weder mißbräuchliche Verwendung à la Ditfurth kommt dagegen auf, noch kleinkarierter Nihilismus à la Mohr, der folgerichtig bei der Parole „Weiter so!“ endet, vormals „Keine Experimente!“ oder in der endgültigen Version „Freibier statt Rheumatismus“.

Woher denn, lieber Herr Mohr, bestimmt sich, was als Vernunft gelten soll — wenn nicht aus der Utopie? Hajo Seidel, Frankfurt am Main

Ich frage mich: Warum nehmen in Deutschland schon seit einigen Jahren (nicht erst seit 1989) so viele Linke und Grüne Abschied von ihrer bisherigen Utopie und akzeptieren die gegenwärtige Wirklichkeit? Und warum halten in der Dritten Welt — von Peru über Kuba und Indien bis Philipinen — so viele Linke noch an ihrer Utopie fest?

Ich denke, ich weiß die Antwort. In Deutschland läßt sich ohne Utopie besser (und ohne Gewissensbisse) leben als mit Utopie. Die gegenwärtige Wirklichkeit (auch der Linken) in Deutschland ist überwiegend: Wohlstand, Komfort, Luxus. Die ökologische linke Utopie aber fordert Opfer von den Deutschen — im Namen der Ökologie und Gerechtigkeit gegenüber der Dritten Welt.

In der Dritten Welt ist die Wirklichkeit (auch der Linken) überwiegend: Armut, Krankheit, Ausbeutung, Unterdrückung, oft auch Tod durch Hunger, Sturmflut und Cholera. Freud und Mohr mögen mit ihrer Behauptung recht haben, im Plan der Schöpfung sei eine endgültige Befreiung der Menschheit nicht enthalten. Aber in der Dritten Welt setzt selbst ein bißchen Verbesserung der Lage utopisches Denken voraus — konkret Abschaffung des Kapitalismus. Solidarität mit der Dritten Welt muß also bedeuten: gegen den Kapitalismus kämpfen. Saral Sarkar, Köln

„Angelus Novus“ oder Plädoyer für eine „konkrete Utopie“ über HERRschaft hinaus

Juhu, da wird wieder mal ein aktueller Versuch an einem „utopischen Konzept“ festzuhalten, mit dem Argument der Einsicht in die Notwendigkeit ohne Utopien zu leben erschlagen. Wie einfach! Kulturkritik der billigsten Sorte?

Nein, es soll nicht auf den Rückzug einiger radikaler Linken und einer radikal linken Frau aus der Organisationsform Partei aufmerksam gemacht werden. Es handelt sich um „mehr als das übliche Rückzugsgetöse auf dem Weg von der Partei zur Sekte“.

Nein, vonnöten ist für den Verfasser vielmehr, daß „angesichts einer extrem erweiterten Rationalisierung des gesamten Lebens eine zweite, umfassende Säkularisierung politischen Denkens und Handelns“ stattfindet. Umgeben sieht sich der „Held der strategischen Erkenntnis“ von der instrumentell-technokratischen Vernunft der „Zukunftsplaner“ und „Prognostiker“.

Nur schade, daß er keine Belege für seine Behauptung anführt. Schade auch, daß er alle „Zukunftsplaner“ und „Prognostiker“ für seine These vereinnahmt. Schade auch, daß er gerade ob des deutlichen Versagens der „instrumentell-technokratischen Vernunft“, die immerhin Bestandteil oder Grundlage bestehender HERRschaftsverhältnisse ist, über den „flüchtigen Blick auf die Welt — Stand: Ende Mai 1991“ nicht hinauskommt.

Wenn die „konsequente Entwicklung von der Utopie zur Wissenschaft“, [...] „das gesellschaftliche Leben wie das indviduelle Glück systematisch, gründlich und dauerhaft ruiniert hat“, warum dann genau da weitermachen?

Warum, so frage ich mich, soll dieser elende Fortschritts-Pragmatismus weiter fortbetrieben werden?

„Daß selbst der reine Gedanke an die Überwindung auch nur der drückendsten Not und der himmelschreiendsten Verbrechen die Qualität eines wundersamen Tagtraums annehmen muß, um sich gegen die täglichen Alpträume wenigstens stundenweise behaupten zu können“, setzt voraus, daß man diese „täglichen Alpträume“ erstmal als Realität annimmt.

Was nottut ist die „Destruktion des Fortschrittsbegriffs“, vor allen Dingen desjenigen, der sich auf „instrumentell-technokratische Vernunft“ beruft und damit über die Flüchtigkeit des Augenblicks nicht hinauskommt. Um nur mal einen „Theoretiker der Moderne“ — vielleicht als Anstoß zum über die Vernunft der „Zukunftsplaner“ und „Prognostiker“ hinausdenken — zu benennen; Walter Benjamin, der nächstes Jahr 100 Jahre alt geworden wäre, als bucklicht Männlein und Engel der Geschichte eben auch als Verfechter „konkreter Utopien“ dafür wegweisend, daß die „scheinbar klare Symmetrie zwischen Utopie und Realität, Gut und Böse“ nicht unbedingt „die Lebenslüge einer politischen Heilslehre“ zu sein braucht, „die glaubt, aus der Denunziation des schlechten Ganzen ergebe sich schon das wahre Ganze.“

Er macht in seiner Geschichtsphilosophie Schluß mit dem HERRschaftsverhältnisbedingenden Fortschrittsdenken, das den Ausnahmezustand in dem wir leben durch die Tradition der Unterdrückten verharmlost und sich somit über die Apokalyptik unseres Daseins sowie HERRschaftsverhältnisse hinweglügt. „Die ,Konstruktion‘ setzt die ,Destruktion‘ voraus.“ Ich meine, wir sollten beim HERRschaftsdenken anfangen. Statt „umfassender Säkularisierung politischen Denkens und Handelns“ nach altbekannter Manier dahingehend zur Aufrechterhaltung des Lebens ohne Utopien zu fordern, sollten wir uns verstärkt utopischen Bildern aller Epochen zuwenden. Christine Gugel, Nürnberg