Eine solche unheimliche Wut

Interview mit Karlheinz Böhm  ■ Von Thierry Chervel

taz: Sie bezeichnen sich immer noch als Schauspieler.

Karlheinz Böhm: Ich war Schauspieler seit dem Jahr 1948 und werde es bis an mein Lebensende sein.

Durch den Film „Alraune“, wo Sie neben Hildegard Knef und Erich von Stroheim spielen, wurden Sie einem größeren Publikum bekannt. Das war 1952. Wie kamen Sie an die Rolle?

Ich mußte Probeaufnahmen machen, als einer von 27. Ich wußte erst nicht recht, was ich vorsprechen sollte. Da fiel mir ein Stück ein, das ich an der Schauspielschule gespielt hatte, Armut von Anton Wildgans. Ich spielte einen sehr jungen, sehr armen Schüler und hatte einen Monolog, wo ich eine algebraische Gleichung aufzeichne. „Zwei Züge fahren von A nach B, die Geschwindigkeit des einen ist x, die des anderen x mit dem Index 1“ usw. Ein paar Tage später hatte ich die Rolle. Hildegard Knef hat mir bei den Dreharbeiten erzählt, daß sie mich wegen dieser Gleichung genommen haben. Die haben sich halb totgelacht.

Erich von Stroheim war damals schon eine Legende; seine Filme wurden erst sehr viel später anerkannt.

Er kam mit einem riesigen weißen Cadillac in die Bavaria-Studios. Seine französische Lebensgefährtin war auch immer in Weiß gekleidet. Er selbst trug nur weiße Hosen, weiße Lumberjacks, weiße Hemden, weiße Krawatten, weiße Glacé- Handschuhe. Ich kann mich an den ersten Drehtag erinnern. Plötzlich kriegte ich einen riesigen Tritt in den Arsch und stolperte in die Einstellung. Es mußte unterbrochen werden. Ich drehte mich um, und Stroheim stand grinsend hinter der Kamera und schrie „Merde! Merde! Merde!“. Das sollte Glück bringen. Er mochte mich also.

Eine Begegnung werde ich nie vergessen. Die Bavaria hatte in einer großen Münchner Villa zu einer Filmparty eingeladen. Viele Stars waren da. Stroheim nahm mich mit, ich mußte mich aber auch ganz in Weiß anziehen. Es war ein heißer Sommerabend. Es brannten Fackelschalen im Gras. Wir liefen über einen Steinboden, Stroheim und seine Frau vorn, ich hinter ihnen. Plötzlich blieb er stehen, und ich sah einen anderen Mann vor ihm stehen, auch mit sehr elegantem Smoking. Stroheim macht eine sehr knappe, militärische Verbeugung und sagte: „Wonn Strrroeimm!“ Und der andere nickte ebenso kurz mit dem Kopf und sagte: „Korrr-tnärr!“ Und ohne einen weiteren Blick gingen sie aneinander vorbei. Was ich nicht wußte, war, daß die beiden in Deutschland und Österreich Intimstfreunde gewesen waren, und daß sie sich in Kalifornien in dieselbe Frau verliebten und sich seitdem von Herzen haßten, wirklich bis in den Tod hinein.

Sissi

Und dann kam Ernst Marischka.

Ich wollte das nicht drehen! Ich hatte ganz andere künstlerische Ambitionen, ich wollte nicht in so einer Operettenschnulze spielen. Ich wollte ein guter Theater-, aber auch Filmschauspieler werden. Meine Agentur in München hat mich damals geradezu bombardiert. Ich würde populär werden, ich würde viel Geld verdienen. Ich hab Nein, Nein, Nein gesagt. Mit Marischka habe ich bei den ersten Treffen auch keinen rechten Kontakt gefunden. Er war zwar sehr charmant, und wenn man mit ihm sprach, hat man ja geglaubt, daß der Kaiser Franz Joseph im nächsten Moment mit der Kutsche am Hotel vorbeifährt. Aber ich hab' mich ganz schwer entschließen können – ich sage das nicht, um mich irgendwie zu rechtfertigen oder aus Larmoyanz, im Gegenteil: ich bekenne mich zu dem Film.

„Sissi“ war wohl der erfolgreichste deutsche Film aller Zeiten.

Wenn ich das damals geahnt hätte, hätte ich jedenfalls andere Gagen abgeschlossen. Ich habe für die drei Filme zusammen 170.000 Mark gekriegt und nie mehr einen Pfennig dazu, ich habe weder Tantiemen bekommen, noch kriege ich heute was, wenn die Filme im Fernsehen laufen. Und das bei Filmen, die vielleicht hundert oder 150 Millionen Mark eingebracht haben.

Wie sehen Sie die drei „Sissi“- Filme heute?

Aus einer ganz anderen Perspektive, als ich sie in den sechziger und siebziger Jahren gesehen habe – Fassbinder hat dazu beigetragen. Diese drei Filme sind ein kulturhistorisches Phänomen, und zwar weit mehr als alle Förster im Silberwald- und Heimatfilme der Epoche. Die Sissi-Filme entsprechen in ihrer ganzen Verlogenheit, ihrer historischen Unwahrhaftigkeit genau der Wunschvorstellung der Deutschen in der Nachkriegszeit – dieser Versuch, aus einer Horrorgeschichte – die Beziehung zwischen Kaiser Franz Joseph und Sissi muß in Wirklichkeit ein Schrecken gewesen sein – ein glückliches, gesundes Paar zu machen.

Mir erscheint „Sissi“ als eine Art symbolischer Machtübergabe der Eltern an eine junge Generation. Diese Machtübergabe geht zwar nicht ohne Konflikte ab – die rein privater, nicht politischer Natur sind –, aber sie mündet in Harmonie. Es ist genau die Machtübergabe und Anerkennung durch die Jugend, die sich die wirkliche Elterngeneration damals gewünscht hat – nach all dem Grauen, dem Mord und dem Krieg, die sie angezettelt hatte.

Absolut. Es entsprach einer Gesellschaft, die 1945 alle ihre Ideale verloren hatte, die nicht nur 20 Millionen, oder ich weiß nicht wieviele Menschenleben auf ihrem Gewissen hatte, ein ganzes Land, eine ganze Kultur zerstört hatte. Es war nichts mehr da, man mußte von Null anfangen. Man baute keine neue Ethik auf, man baute Eigenheime und wollte vor allem noch besser ausgehen, noch tollere Feste feiern. In diese Leere ist der Marischka mit einer ungeheuren Genialität hineingestoßen.

Erzählen Sie von Romy Schneider.

Da muß ich Sie wahrscheinlich genauso enttäuschen wie soviele Menschen, die sich da sehr viel von mir erwarten. Die Romy hat im Gegensatz zu mir Tagebuch geführt. Über unsere Beziehung hat sie in diesem Tagebuch, das, ich glaube, vor zwei Jahren erschienen ist, absolut wahrhaftig geschrieben. Diese kühl- nett-freundliche Beziehung zwischen zwei Kollegen, die sich nie zu einer Freundschaft entwickelt hat. Mehr als das offizielle Auftreten bei gesellschaftlichen Anlässen oder die Arbeit im Studio gab es eigentlich gar nicht. Ich habe ja nach Sissi noch einen weiteren Film mit Romy gedreht, Kitty und die große Weltkonferenz mit O.E. Hasse. Dann habe ich sie noch ein einziges Mal wiedergesehen, 1960 in Paris, wo wir ein sehr freundschaftliches Gepräch hatten und sie mir über ihren damaligen Selbstmordversuch in ihrer Beziehung mit Alain Delon erzählte.

Wer der Mensch Romy Schneider war, kann ich wirklich nicht sagen. Ich hab ein sehr junges, sehr unsicheres Mädchen kennengelernt, das von Mutter und Stiefvater unvorstellbar manipuliert war. Alles war festgelegt: Wen sie sehen durfte und wen sie nicht sehen durfte, mit wem sie essen durfte und mit wem sie nicht essen durfte, mit wem sie geflogen ist oder nicht geflogen ist. Wir hatten nur sehr sehr wenige private Momente.

Es gibt eine auffällige Parallelle zwischen Romy Schneider und Ihnen. Beide versuchten nach „Sissi“ sehr schnell aus dieser Rollenfestlegung auszubrechen.

Das war nicht nur auf Sissi beschränkt. Ich hatte gemerkt, daß ich einen falschen Weg ging, der meinen künstlerischen Vorstellungen überhaupt nicht mehr entsprach. Ich bin dann ausgebrochen aus Deutschland, und wie die Romy nach Frankreich ging, ging ich nach England, später nach Amerika.

Es war eine seltsame Zeit im deutschen Kino. In Frankreich gab es die „Nouvelle Vague“, in Italien Fellini, Pasolini und Antonioni, in Deutschland war nichts. Hatten Sie Schwierigkeiten, Rollen zu finden?

Es ging bergab in Deutschland. Vorschläge gab es schon – mir wurden unvorstellbar viele junge Liebhaberrollen angeboten, Kaiser und Prinzen und all so'n Käse. Und dann kamen die Angebote von Metro Goldwyn Mayer. So habe ich wenigstens Geld verdient, wenn es künstlerisch schon nicht mehr lief. Übrigens hat mir zweimal die Absage eines Kollegen einen gigantischen Sprung in meinem Leben gebracht. Beide Male war das Hardy Krüger. Hardy Krüger wurde Peeping Tom angeboten, und er hat abgelehnt, und Krüger wurde von Fassbinder Martha angeboten, und er hat wieder abgelehnt.

Peeping Tom

Ich kannte den Regisseur Michael Powell nicht. Ich wußte zwar, daß er die Roten Schuhe gedreht hatte und It Happened Yesterday, diesen herrlichen Film. Aber die Begegnung mit ihm war eine der wichtigsten in meinem Leben, obwohl wir nur einen Film zusammen gemacht haben. Er war wiederum, wie Stroheim und später Fassbinder, einer dieser wahnsinnig komplizierten Menschen, mit denen ich mich blendend verstand. Es hat sich rausgestellt, daß ich ganz selten einen Regisseur hatte, der so sehr auf meine Begabungen oder auch Unfähigkeiten einging. Das ist mir mit keinem anderen Regisseur passiert, auch nicht mit Fassbinder – das war ein ganz anderer Prozeß. Das Buch von Peeping Tom hat mich von vornherein fasziniert. Ich habe die Abgründigkeit des Films sehr schnell gesehen, wenn auch nicht im ganzen Ausmaß. Als ich den Film drehte, war ich noch fest davon überzeugt, daß ich jetzt eine Starrolle nach der anderen spielen würde.

Powell hat „Peeping Tom“ ja einen „Film des Mitleids“ genannt. Das war ja vielleicht das Erschreckende an dem Film, der Voyeur und Lustmörder, den Sie spielen, wird an keiner Stelle denunziert. Es gibt keinerlei Abscheu vor der Figur. Wie sind Sie an die Rolle herangegangen?

In Peeping Tom wird ja gezeigt, daß ein Vater seinen Sohn faktisch von klein an zum Mörder drillt, und das hat mich fasziniert. Die Tatsache, daß dieser Mann dann drei Frauen umbringt, hat mich ihn nicht als Mörder spielen lassen, sondern als einen Menschen, der unter einem ungeheuren, unausweichbaren Zwang gehandelt hat. Vielleicht habe ich auch aus der Perspektive meines eigenen Vaterverhältnisses gehandelt – ich hatte zwar ein sehr gutes Verhältnis zu meinem Vater, aber mein Vater hat mich als Künstler sehr, sehr dominiert.

Ich habe mich mit Powell damals sehr oft über etwas unterhalten, was ich empfand – er war völlig verblüfft, als ich ihm das sagte: Das war die Parallelle zu den Nationalsozialisten. Wie konnte ein junger Mensch von Hitler soweit beeinflußt werden, daß er am Ende Hunderte, ja sogar Tausende von Menschen umbrachte? Von dieser Ecke habe ich versucht, dieser Figur soviel Sympathie, soviel Liebe wie möglich abzugewinnen.

Sie sind sehr weit gegangen.

Sicher. Aber Powell hat es unterstützt, er hatte keine Angst, es rauskommen zu lassen. Powell wollte immer weiter mit mir Filme drehen. Naja – und dann kam die Premiere.

Ein Desaster.

Ein tiefer Einschnitt in meinem Leben – aber für Powell war es leider Gottes eine noch viel schlimmere Katastrophe. Zur Premiere in einem der großen Erstaufführungskinos im Westend kam die ganze Londoner Gesellschaft. Während des ganzen Films herrschte Totenstille. Nach der Vorführung gingen wir runter an die Treppe. Es hatte keinen Applaus gegeben. Die Leute kamen die Treppe runter und gingen an uns vorbei, als ob wir gar nicht dastünden. Powell kannte die meisten Leute. Ich sah, wie sein Gesicht immer mehr verfiel. Er war sprachlos. Zur Premierenfeier kamen nur ganz wenige am Film beteiligte Schauspieler und Techniker. Es herrschte betretenes Schweigen. Am nächsten Tag stand in der 'Daily Tribune': „Die einzig befriedigende Art und Weise, Peeping Tom zu beseitigen, wäre, ihn zusammenzukehren und ihn schnell die nächste Toilette runterzuspülen.“ Es hat dann bis 1980 gedauert, bis Martin Scorsese, der mit Powell befreundet war und mit ihm gearbeitet hat, diesen Film in New York wiederentdeckte. Die 'New York Times' nannte ihn dann einen der zehn besten Filme dieses Jahrhunderts.

Wie sah es für Sie persönlich aus nach „Peeping Tom“?

Es war ein Schock. Ich hatte zuviele Hoffnungen auf den Film gesetzt. Ich hab' versucht, die Zeit nach Peeping Tom auszufüllen, habe in Frankreich zwei Filme gedreht, zwei ganz miese. Dann bin ich nach Amerika gegangen, habe von Vincente Minelli eine sogenannte „tragende Nebenrolle“ angeboten bekommen in The Four Horsemen of the Apocalypse.

Ich hab mich dann in Hollywood seßhaft gemacht. Man hat mir einen Dreijahresvertrag angeboten mit sechs Filmen. Vier davon habe ich gemacht. Anfangs habe ich noch versucht, mich zu integrieren in diese Gesellschaft, Hollywood, Kalifornien, diese ganz andere Art, Film und Theater zu machen. Das ist mir überhaupt nicht gelungen. Ich hab' mich dann eigentlich nur nach Europa gesehnt, bin dann 1963 ganz nach Europa zurückgekommen und habe mich in eine Art Frühpension zurückgezogen, in ein Bauernhaus in einem Tessiner Dörfchen. Den Tritt in den Hintern hat mir eigentlich meine Frau gegeben, die polnische Schauspielerin Barbara Kwiatkowski-Lass.

Roman Polanskis große Liebe...

...und Ex-Frau. Sie hat mir Mut gemacht. Ich fing dann wieder ganz unten an, mit Theatertourneen, wirklich Knochenarbeit, bei der man viel lernt. Kann ich jedem jungen Schauspieler sehr anraten.

'68

Was bedeutete 1968 für Sie?

'68 und die Studentenrevolte waren für mich prägend. Sehen Sie, ich bin politisch sehr konservativ erzogen worden. Das war damals in der Nazi-Zeit vielleicht auch die einzige Möglichkeit, einen jungen Menschen einigermaßen anständig zu erziehen. Ich rechne das meinen Eltern hoch an. Mein Vater war nicht Parteimitglied, und er hat sich davor gedrückt, in irgendeiner Form mit den Nazis identifiziert zu werden. Er hat mich 1939 in die Schweiz geschickt, und als ich 1945 zurückkam, nach Österreich, in eine mir fast unbekannte Welt, wo ich Abitur machte und auf die Uni ging, gehörte ich ja zu der Generation, die absolut angepaßt war. Man mußte noch immer die Schnauze halten, wie bei den Nazis. Bloß nicht irgendwo ins Fettnäpfchen treten. Die Hauptsorge war: wie kriegt man den Bauch voll. Auch meine Eltern waren schlecht dran nach dem Krieg. Wir waren einfach nicht an Politik interessiert. Mein Vater sagte immer: Ein Künstler ist kein Politiker. „Man“ tat das nicht. Die fünfziger Jahre sind an mir politisch spurlos vorübergegangen. Dieser brave Konservativismus hat sich dann in den sechziger Jahren gepaart mit dem persönlichen Unglück über meine künstlerische Stagnation.

Mein Weg ist allerdings anders herum verlaufen als der der meisten Achtundsechziger: Ich wurde immer aufgeregter, je älter ich wurde. Mein erster Versuch war mein Engagement für Bruno Kreisky, Ende der Sechziger. Normalerweise fängt man mit 17, 18, 20 an zu revoltieren, und jetzt sitzt diese Generation da, vollgefressen, gesättigt, mit guten Autos. Man ist gemütlich geworden, vielleicht nicht konservativ, aber bürgerlicher.

Hatte Ihr Vater Ihnen nicht das Versprechen abgenommen, sich nicht für eine politische Partei zu engagieren?

Jaja. Das habe ich 1968 zurückgegeben, habe ihm gesagt, daß ich es nicht halten kann. Er hat es nie toleriert. In eine Partei bin ich trotzdem nie eingetreten.

'68 war auch die Zeit, wo man sich mit den Vätern auseinandersetzte. Meines Wissens kam Ihr Vater nicht ganz unverstrickt aus der Nazi-Zeit. Das muß doch in ihm und vielleicht auch in Ihnen gearbeitet haben. Es gibt diese zwei Erklärungen, die er 1936 und 1938 für Hitler abgegeben hat. 1938 gibt es ein Zitat zum Anschluß Österreichs: „Wer dieser Tat unseres Führers nicht mit einem hundertprozentigen Ja zustimmt, verdient nicht, den Ehrennamen Deutscher zu tragen!“

Von wo kommt diese Erklärung, aus einem eigenen Buch von ihm?

Die hat er fürs Gaupropagandaamt der NSDAP in Wien gemacht.

Es würde mich verwundern. Denn mein Vater hat sich aus politischen Dingen immer herausgehalten, soweit ich mich erinnern kann auch früher. Ich weiß, daß man ihn ein paarmal fehlzitiert hat, was mir sehr leid tut. Das einzige, was man ihm vielleicht vorwerfen kann, ist, daß er den Mund gehalten hat, daß er nicht emigriert ist, daß er nichts gemacht hat und dadurch eine gewisse angepaßte Erscheinung war.

Das Zitat habe ich aus einem absolut seriösen Buch, ich weiß nicht, ob Sie es kennen: Fred K. Priebergs „Musik im NS-Staat“1.

Nein. Ich weiß nicht, woher er das Zitat nimmt. Ich möchte mich darum nicht dazu stellen, weil ich nicht weiß, inwieweit es der Wahrheit entspricht.

Man hat meinem Vater auch einmal nachgesagt, er hätte in Leipzig Leute ins KZ gebracht, und es hat sich später herausgestellt, daß es der Regisseur Dr. Karl-Hans Böhm, war, der dieses Verbrechen begangen hat. Mein Vater hat sich zum Beispiel auch der Partei verwehrt, mit allen möglichen Methoden. Er hat in dieser Zeit Opern und Konzerte dirigiert. Soweit mir bekannt, hat er weder mit Hitler noch mit anderen Nazi- Größen einen engeren Kontakt gehabt und sich dazu bekannt. Aus persönlichen Gesprächen, die ich als Kind mit ihm hatte, kann ich mich erinnern, daß ich nie eine zum Nazismus positiv eingestellte Meinung von ihm gehört habe.

Fassbinder

Wie haben Sie Fassbinder kennengelernt?

Es gab ein Studententheater in der Universität in München namens „Witwe Bolte“. Da hat Fassbinder mit seiner Gruppe gearbeitet. Sie spielten gerade Das Caféhaus von Goldoni, und ich saß wie alle andern auf dem Boden, guckte mir das fassungslos an. Es war anders als alles, was ich bis dahin gesehen habe. Ich hab dann nachgeguckt, wer das war – ich kannte Fassbinder nicht. Wenige Wochen später sah ich in einem Kino eine Anzeige: Katzelmacher, dieser Film über Fremdarbeiter, wie man damals sagte. Es hat mich total umgehauen. Damals mußte ich Geld verdienen und habe auch Filme synchronisiert. Und in einem Studio der Bavaria sah ich um einen Tisch die ganze Fassbinder-Familie sitzen und ging spontan auf ihn zu und sagte: „Herr Fassbinder, mein Name ist Karlheinz Böhm, ich habe zwei Arbeiten von Ihnen gesehen, es wäre toll, wenn ich mal mit Ihnen arbeiten könnte.“ Und Fassbinder in seiner – sehr milde gesagt – unkonventionellen Art guckte einmal ganz kurz von seinem Essen auf und knurrte: „Mmmh.“ Aus. Das war das Ende der Begegnung. Ich hatte eine solche unheimliche Wut und dachte: „Mensch, mein Vater hat mir immer gesagt, große Künstler sind bescheiden, dieser Fassbinder, dieses Arschloch, dieses blöde, soll mir doch mal den Buckel runterrutschen.“ Zwei Tage später schickte mir meine Agentur das Drehbuch zu Martha. Ich hab's gelesen. Ich war sofort einverstanden und fuhr nach Konstanz, wo gedreht wurde.

Es war eine neue Welt. Fassbinder, in seiner für mich anfangs nicht nachvollziehbaren Art, empfing mich im Anzug mit Krawatte. Er war immer superelegant angezogen, wenn er mit mir drehte. Das zeigt vielleicht ein bißchen von der Methodik von Fassbinder. Er ist auf Menschen unvorstellbar eingegangen und hat sie auf diese Weise auf die fast schamloseste Art ausgenutzt – manchmal bis zur Selbstzerstörung von Menschen. Das ist ja öfters in seinen Gruppen vorgekommen. Es entwickelte sich dann – Freundschaft ist ein falscher Ausdruck, eher eine ungeheure Neugierde meinerseits zu dieser Gruppe. Das war ja ganz neu für mich, lauter Chaoten, lauter Verrückte, Homosexuelle, merkwürdige Frauen.

Damals waren diese Wahrheitsspiele in Mode, man setzte sich zusammen und fragte sich gegenseitig, was man voneinander dachte. Da war der Fassbinder ganz toll und hat die ganze Gruppe gegeneinander ausgespielt, bis sie sich am Ende alle haßten und sich am liebsten das Messer in den Bauch gerannt hätten. Das genau wollte der Fassbinder. Ich habe das zuerst nicht begriffen. Er hat die Leute manipuliert, er war ein absoluter Diktator, obwohl er immer behauptet hat, er arbeitet in der Gruppe. Er war alles andere als das, er war ein Individualist. Deshalb habe ich mich vielleicht so gut mit ihm verstanden.

Was hat er mit Ihnen gemacht? Ich habe den Eindruck, daß er das Klischee, das es über Sie gab – die Bürgerlichkeit und Vornehmheit der Erscheinung –, durchaus einsetzte, um eine Kehrseite davon zu zeigen: der Edelschwule in „Faustrecht der Freiheit“, der Ingenieur in „Martha“.

Bürgerlich-sympathisch bin ich in Martha nicht gerade. Etwas Diabolischeres als diesen sadistischen Ehemann dürfte es kaum geben. Wissen Sie, was es mit Martha auf sich hat? Fassbinder hat mich darin optisch fast identisch nach seinem Vater hergerichtet.

Ihr Gesichtsausdruck, diese Lüsternheit, als sie sich über Martha hermachen, die am ganzen Körper Sonnenbrand hat, ist denkwürdig. Haben Sie viel daran gearbeitet?

Mir war natürlich bewußt, und auch widerlich, wie pervers das war. Diese ungeheure zerstörerische Kraft eines Menschen zu befreien – die alles andere als in mir drinsetzt-, über einen Menschen herzufallen, der durch einen Sonnenbrand bis zum Wahnsinn leidet. Diese Perversität mußte man halt spielen.

Hat das nicht auch Spaß gemacht? Das Publikum, das Sie zum großen Teil aus Boulevardzeitungen kannte, muß doch völlig konsterniert gewesen sein. „Martha“ war schließlich ein Fernsehfilm.

Wir haben sehr viel gelacht. Hinterher habe ich entsetzliche Briefe gekriegt, auch von Tierschutzvereinen, wegen dieser Szene mit der Katze.

In „Mutter Küsters Fahrt zum Himmel“ spielen Sie einen reichen Kommunisten, der eine alte Proletarierin für die Partei ausnutzt.

Das Raffinierteste war, daß Fassbinder diesen Film durch die Deutsche Kommunistische Partei mitfinanzieren ließ, obwohl es ein wirklich antikommunistischer Film war. Fassbinder hatte ein Drehbuch an ein Parteibüro eingesandt, ich glaube in Bochum. Das Drehbuch war natürlich ganz anders als der Film, der dabei herauskam. Ein echt anarchistischer Film. Ich erinnere mich an einen Satz von ihm, den ich schon oft zitiert habe, aber er ist wichtig für mich: Als ich das Buch gelesen hatte, ging ich zu ihm ins Zimmer – damals waren wir am TAT in Frankfurt –, und er saß da in seiner Ledermontur, Stiefel auf dem Tisch und Hut im Gesicht. „Ich habe das Buch gelesen“, habe ich zu ihm gesagt, „ist ja auch ganz gut, aber kannst du mir mal eines erklären: Du bist gegen die Rechten, das weiß ich, du bist gegen die Linken, das weiß ich auch. Für was bist du denn eigentlich?“ Er hat die Stiefel vom Tisch genommen, den Hut hochgeschoben, die Schweinsäuglein wurden auf einmal riesig groß. Er guckte mich einen Moment an und dachte nach. Dann sagte er: „Weißt du, ich beobachte eigentlich nur, wo irgendwas schiefläuft, ob das jetzt links ist, rechts, vorne, hinten, oben, unten, das ist mir ganz wurscht. Ich schieße nach allen Richtungen.“ Das war Fassbinder. Damit konnte ich mich absolut identifzieren, auch heute noch.

Sie haben zwei Jahre lang mit Fassbinder zusammengearbeitet, vier Filme gemacht, viele Theaterstücke. Warum ging es auseinander?

Auf der Bühne haben wir uns nicht so gut verstanden wie im Film. Der Grund war, daß er vollkommen ohne Geduld war. Er wollte genauso schnell arbeiten wie beim Kino, und das geht halt auf der Bühne nicht. Da habe ich mit ihm überhaupt nicht harmoniert. Das hat dann letztlich auch zu unserem Auseinandergehen geführt – das kein Bruch war.

Äthiopien

Der nächste große Einschnitt kam dann 1981: die „Wetten daß“-Sendung, die zu Ihrem Engagement in Äthiopien führte, der Tod Ihrer Eltern, die kurz nacheinander starben.

Nein. Der nächste große Einschnitt war meine sich entwickelnde Theaterkarriere, die 1976/77 begann und die ja dann 1980 in meiner schwersten Rolle meiner Theaterlaufbahn kulminierte, dem König Lear, der mich auf eine fürchterlich schmerzhafte Art und Weise an die Grenzen meiner Begabung und darüber hinaus bis in den leeren Raum hinein expediert hat.

Hinzu kam ein immer stärkeres politisches Bewußtsein. Ich sagte mir, es ist einfach sinnlos, mit Gleichgesinnten dazusitzen, auf den Tisch zu klopfen und zu sagen: wie beschissen ist die Welt. Du mußt was machen, und wenn es nur für einen Menschen ist.

Ich hatte eine Fernsehsendung über die Sahelzone gesehen, gleichzeitig forderte Verteidigungsminister Apel im Bundestag einen Nachschlag von hundert Millionen für Treibstoff. Dann kam diese Einladung zu Wetten daß, wo ich nicht hingehen wollte, weil ich mir dachte, Mensch, ein Schauspieler, der König Lear spielt, geht jetzt in Wetten daß und irgend so 'n Käse. Was ja auch eine falsche Einstellung ist. Ich habe dann gewettet, und es kamen diese 1,7 Millionen Mark zusammen.

Können Sie kurz erzählen, welche Projekte „Menschen für Menschen“ seither betreibt oder abgeschlossen hat?

Wir haben zwei Nothilfeprojekte gemacht in der Dürrekatastrophe 1984/85 und jetzt 1990/91 mit einem Investment von ungefähr 26 Millionen D-Mark, für die wir Getreide gekauft haben, Decken, Zelte, Medikamente, um Menschen das nackte Leben zu retten. Obwohl ich solche Soforthilfe nur für eine erste Phase einer Hilfe halte, denn nur wenn man Menschen langfristig hilft, eine gesicherte Existenz zu haben, hat Hilfe überhaupt Sinn.

Wie sehen die langfristigen Projekte aus?

Als langfristig betrachten wir Projekte mit einer Laufzeit von zehn bis zwanzig Jahren wie zum Beispiel ökologische Rehabilitationsprojekte, wo wir versuchen, etwa erodierte Gebiete zu terrassieren, aufzuforsten und Baumschulen anzulegen, vor allem aber die Bauern durch Sozialarbeit zu motivieren, diese Arbeit selber zu machen. Wie überhaupt alle Projekte, die man vielleicht mit dem Überbegriff ländliche Entwicklungsprojekte bezeichnen könnte, in Zusammenhang mit Bauern entstanden sind. Die Arbeit basiert auf dem Versuch, die Bedürfnisse der Menschen kennenzulernen. Wo kommt die Kultur her, was für Traditionen sind es, wie sind die Familienstrukturen, was für eine Religion haben die Menschen, wie arbeiten sie, warum sind sie in Not geraten?

Ihr erstes Projekt war 1981 das Dorf Nagaya.

Was „Frieden“ bedeutet. Das Flüchtlingslager, das ich nach Wetten daß zuerst gesehen habe, lag im Osten des Landes. Etwas dreißig Kilometer entfernt davon lag ein Tal mit halb wüstenartigem Charakter, wo man eine Ansiedlung durchführen konnte. Ich habe den Leuten dieses Tal gezeigt. Die Ansiedlung – das wird auch von Fachleuten gesagt – ist inzwischen absolut geglückt. Diese 2.100 Menschen sind heute seßhafte Bauern. Sie produzieren genügend Nahrungsmittel, um autark zu sein. Im Vergleich zu anderen Bauern sind sie sogar wohlhabend. Wir haben dort soziale Infrastrukturen wie Wasserstellen, Getreidemühlen, Schulen, Kliniken usw. aufgebaut. Aus Nagaya heraus haben wir dann ein weiteres Projekt entwickelt, ein agrotechnisches Trainingszentrum, um die junge Generation mit einer bescheidenen Landwirtschaftstechnik vertraut zu machen.

Im Zusammenhang mit Ihrem nächsten Projekt – einer Umsiedlung von 85.000 Menschen – gab es erstmals Kritik an Ihrer Arbeit. Ihnen wurde vorgeworfen, daß Sie mit der ehemaligen äthiopischen Regierung zusammenarbeiteten.

Für mich hat sich das Problem nicht aus politischer Sicht gestellt, sondern aus menschlicher. Im Januar 1985 wurde ich von der Ethiopian Relief and Rehabilitation Commission (RRC) mit etwa vierzig Diplomaten, zwei Fernsehteams, Vertretern von anderen Hilfsorganisationen usw. in die betreffenden Gebiete geführt. Man war bemüht, uns „intaktes Leben“ zu zeigen. Aber ich hatte das Glück, einen amerikanischen Journalisten äthiopischer Herkunft kennenzulernen und habe schnell hinter die Kulissen geblickt. Die äthiopische Regierung hatte gar keine finanziellen Mittel, diese Umsiedlung durchzuführen. Die Menschen lebten in einem schier unvorstellbaren Elend. Ich habe mit meinen eigenen Augen gesehen, wie Menschen mit den nackten Händen um ihre Hütten herum Boden umgegraben haben, um wenigstens irgend etwas tun zu können. Es gab keine landwirtschaftlichen Geräte. Für mich bestand kein Zweifel, daß sie verhungern würden, wenn ihnen keiner hilft. Ich habe mich dann entschieden, eine Hilfsaktion anzubieten. Selbst der Leiter der RRC hat mich da gefragt, ob ich wüßte, worauf ich mich einlasse, denn es war klar, daß die anderen Staaten Hilfe für diese Umsiedlung ablehnten.

Woher kamen die Umsiedler?

Von den Provinzen Tigray und Wollo und Nord-Shoa, nicht, wie fälschlich behauptet wurde, von Eritrea, das schon damals weitgehend von den Eritreern kontrolliert wurde.

Um wieviele Leute handelte es sich?

650.000.

Es gab damals zwei Vorwürfe gegen die äthiopische Regierung und indirekt an Sie – etwa durch die „Gesellschaft für bedrohte Völker“: Erstens, daß die Umsiedlung natürlich nicht nur in der Dürrekatastrophe begründet war, sondern auch eine strategische Maßnahme der Regierung im Zusammenhang des Kriegsgeschehns war, die Sie also indirekt unterstützten.

Ich versuche, Menschen zu helfen, die zum Teil Opfer der Dürre, zum Teil Opfer des Bürgerkriegs, zum Teil Opfer der Regierung in irgendeiner Form sind. Ich will mich nicht als Menschenrechtler profilieren. Ich frage nicht, warum die Menschen in Not sind. Das war mir eigentlich immer wurscht.

Gibt es da vielleicht einen Widerspruch zwischen Menschenrechts- und Not- und Entwicklungshilfe- Engagement? Sie haben einmal gesagt, daß man gleich aufgeben könne, wenn man in Ländern Projekte aufbauen wollte, bei denen sicher ist, daß die Menschenrechte respektiert werden.

Das würde ich auch heute noch unterschreiben. Nur: Wenn ich in einem Land Menschen helfe, bedeutet das ja nicht die Anerkennung der Regierung. Wenn ich mit Ministerien zusammenarbeite, heißt das nicht, daß ich deren Politik akzeptiere. Ich bin dem damaligen Präsidenten von Äthiopien, Herrn Mengistu, zweimal begegnet und habe die Politik der Umsiedlung sehr klar kritisiert. Aber eine Organisation, die behauptet, unter Umgehung der Regierung eines solchen Landes Projekte aufbauen zu können, schmeißt entweder das Geld zum Fenster raus oder sie lügt.

Der zweite Vorwurf war, daß die Umsiedlung mit extremer Brutalität durchgeführt wurde. Es wurde von 150.000 Toten geredet.

Ich kann diese Zahl weder bestätigen noch dementieren. Sie geistert seit einer Pressekonferenz durch die Medien, die die „Médecins sans frontières“ gaben, bevor sie ihre beiden Projekte in Tigray und Wollo aufgaben – zwei winzige Projekte, von denen aus sie ihre Beobachtungen gemacht hatten. Auf dieser Pressekonferenz antwortete einer der Vertreter von Médecins auf die Frage eines Journalisten, wieviele Tote es gegeben haben mochte: „Vielleicht 50.000 vielleicht 100.000, vielleicht 150.000. Wer weiß?“ Daraus wurden in den Zeitungen am nächsten Tag 150.000 ohne Fragezeichen.

Man muß hinzufügen, daß die äthiopische Regierung mit der Umsiedlung Pläne ausführte, die die amerikanische Hilfsorganisation US Aid und die Weltbank 1972 entwickelt hatten und die seitdem diskutiert wurden. Damals wollte man sogar 2,5 Millionen Menschen umsiedeln. Wahr ist aber, daß die finanziellen Mittel, die die äthiopische Regierung für die Ansiedler zu Verfügung stellte, und die Anstrengungen, die Ansiedler zu motivieren, gleich Null waren. Da haben wir eingegriffen. Von den 650.000 Umsiedlern haben wir also 85.000 betreut.

Wie sah das aus?

Wir haben ihnen zuerst eine Nothilfe gegeben in Form von Decken, Kleidern, Küchengeräten. Es gab auch eine ärztliche Nothilfe, die dringend notwendig war, mit Klinomobilen. Wir haben dann fünf einfache landwirtschaftliche Geräte wie Hacken, Sicheln, Schaufeln an jede der 27.000 Familien verteilt. Dann haben wir begonnen, Zugochsen zu verteilen – 23.600 Ochsen, alle aus der Region, weil es sonst Rinderkrankheiten gegeben hätte. Eine gewaltige logistische Leistung für so eine kleine Organisation. Dann Saatgut. Gleichzeitig haben wir entdeckt, daß die vorhandene Infrastruktur von Schulen, Kliniken, Wasserstellen, Getreidemühlen schon für die lokale Bevölkerung sehr gering war, auch wenn das Illubabor-Hochland nicht sehr dicht besiedelt ist. Wir haben uns dann entschlossen – in Absprache mit den Fachministerien – 15 Krankenstationen, 21 Schulen, 60 Getreidemühlen und Wasserstellen zu bauen – 515 Wasserstellen mit Quellfassungen und Handpumpen. Dreihundert sind bisher fertiggestellt.

Die Regierung ließ Sie da gewähren?

Als ich nach Äthiopien gegangen bin, habe ich keine Bedingungen gestellt. Ich habe einfach gesagt: Ich will helfen – Punkt. Das hat mir trotz dieser Regierung sehr viel Freiraum gegeben.

Wie beurteilen Sie die aktuelle Entwicklung in Äthiopien?

Es hat sich in den letzten zwei Wochen etwas ereignet, was die kritische Öffentlichekeit eigentlich schärfstens angreifen müßte. Daß die Großmächte ihre Finger im Spiel haben, wenn in der Dritten Welt etwas geschieht, ist hier offenkundig geworden, und zwar auf die widerlichste Art und Weise. Die Vereinigten Staaten haben eine Friedenskonferenz einberufen mit den Oppositionsgruppen und Vertretern der Regierung. Das war Montag vor einer Woche. Dann haben die einen Tag lang verhandelt und einen Waffenstillstand abgeschlossen. Und am Dienstag haben die Amerikaner ohne weitere Verhandlungen die eine Gruppe, nämlich die EPRDF, die sich früher zum albanischen Kommunismus bekannt hat und jetzt anscheinend gewandelt ist, ganz öffentlich über alle Medien aufgefordert, in Addis Abeba einzumarschieren. Und das, ohne daß die Streitparteien, also auch die bisherige Regierung, die Befreiungsbewegung der Eritreer (EPLF) und die der Oromo (OLF), die die größte Bevölkerungsgruppe repräsentiert, ihre Einwilligung gegeben hätten.

Aus welchem Interesse haben die Amerikaner da denn gehandelt?

Das kann ich Ihnen nicht sagen, das wird sich in den nächsten Monaten und Jahren zeigen.

Vielleicht war die EPRDF zu übermächtig.

Sicher, und sie konnte Bedingungen diktieren. Aber eine wirkliche Verhandlung mit den Überresten der Regierung hätte eine demokratische Entwicklung garantieren können – und zwar unter Einbeziehung der OLF, der Eritreer und aller anderen Gruppen. Nun haben sich die Eritreer schon distanziert. Damit ist de facto der Grundstein für die Fortsetzung des Bürgerkriegs gelegt. Verstehen Sie mich richtig: Ich bin nicht gegen die EPRDF, so wie ich auch nicht für die Regierung war. Ich bin für die äthiopischen Bauern. Die EPRDF vertritt Teile der äthiopischen Bevölkerung und hat wie die anderen Gruppen ihre Berechtigung. Nur: Als Demokrat habe ich das Interesse, daß alle an einer Regierung beteiligt sind.

Die Oromo und die Amharen, die in der bisherigen Regierung repräsentiert waren, werfen der EPRDF Stammespolitik vor.

Die EPRDF ist zwar ein Zusammenschluß verschiedener Gruppen, der aber garantiert auch wieder zerbrechen wird. Dominiert wird er von den Tigreern. Kein Mensch in Addis wird eine Regierung von Tigreern akzeptieren. Und amnesty international hat zu Recht gesagt: Die gehen ja genauso vor, wie es die Regierung gemacht hat. Jetzt sperren sie die vorherige Regierung ein, egal ob die Leute schuldig sind oder nicht. Mengistu, der eigentliche Verbrecher, sitzt längst in Simbabwe.

Der Führer der EPRDF, Meles Zenawi, hat sich doch zu Demokratie und Föderalismus bekannt.

Ich lasse mich gerne, wirklich gerne, davon überzeugen, daß ich unrecht hatte. Und ich muß sagen: Die EPRDF hat sofort eine Konferenz mit den Hilfsorganisationen gemacht und hat zugesichert, daß alle Projekte fortgeführt werden. Man bittet sogar, noch mehr Projekte zu machen.

Inwiefern ist die Arbeit der Hilfsorganisationen durch die Ereignisse in den letzten Wochen betroffen worden?

Die Sofort- und Nothilfemaßnahmen wurden unmöglich gemacht, weil die Wege blockiert waren. So ist das auch jetzt noch. Es sind Nothilfe- Lastzüge überfallen und ausgeraubt worden. Die EPRDF hat gesagt, Assab, der Hafen, sei offen und die Hilfsgüter könnten transportiert werden, aber das möchte ich erstmal erleben. Vorläufig wissen wir das nur auf dem Papier, denn in Assab sitzen die Eritreer, und ob die uns nun erlauben, unsere Sachen da rauszuholen...

Die langfristigen Projekte sind aber nicht berührt?

Die laufen eigentlich ganz normal weiter, es ist nur zu ein paar Verzögerungen gekommen. Wenn man aber das Allerschlimmste annimmt, und es bricht ein Chaos aus wie heute in Somalia, dann könnte ich mir ohne weiteres vorstellen, daß alle unsere Projekte sehr schwer betroffen werden.

Im lezten Jahr kam noch eine andere Kritik an Ihrer Arbeit auf. Da wurden Sie in der 'Bild'-Zeitung in einer Hitliste der zehn größten Heuchler geführt. Und der deutsche 'Wiener' stellte Ihr Engagement als den Egotrip eines alternden Schauspielers mit Liebesmangel dar.

Ich quittiere das mit einem Schmunzeln. Der Journalist vom 'Wiener' hat gesehen, wie ich von Menschen umarmt wurde. Vielleicht ist seine Beziehung zu dem Begriff Liebe – Menschenliebe, Liebe zu einem Freund oder zu einer Frau – selbst gestört.

Trotzdem: Gibt es nicht auch so etwas wie ein „Helfersyndrom“, eine psychologische Problematik des Engagements? Wie sieht man sich selbst als Helfer?

Ich finde die ganze Beurteilung aus dieser Perspektive krank. Sie kommt aus einer saturierten Gesellschaft, wo man mit dem ganz simplen Begriff der Nächstenliebe nicht mehr fertig wird. Ich habe mich immer gegen irgendeine Form von Plastik- Heiligschein gewehrt. Ich empfinde mein Engagement als etwas ganz Nüchtern-Normales. Es macht mir unheimlich viel Spaß, Menschen helfen zu können. Wenn man das als Liebesmangel bezeichnen will, dann bekenne ich mich voll dazu.

Ich sehe es auch nicht als eine missionarische Tätigkeit, sondern als einen Beruf, genauso wie ich den Lear gespielt habe.

„Der geht da nie raus“, habe ich irgendwo über Sie gelesen. Muß aber nicht gerade das Ziel von Entwicklungshilfe sein, sich überflüssig zu machen?

Was die Projekte angeht, stimmt der Satz auch nicht. „Menschen für Menschen“ wird aus den Projekten herausgehen, sobald sie sich von selber tragen. Was mich selber betrifft: Ich habe dort ein kleines Häuschen mit 78 Quadratmetern, da lebe ich mit meiner Frau und meinem Sohn, und da gehe ich nicht raus.

1) Fred K. Prieberg: „Musik im NS-Staat“, Frankfurt am Mai 1982 (Fischer Taschenbuch 6901)