Kehrt Südafrika nach Afrika zurück?

■ Sie erreichten den Süden des Kontinents nie, obwohl sie vor über 300 Jahren begannen, das Land in Besitz zu nehmen: Die Buren leben von jeher in einer befestigten Wagenburg als fremde Weiße...

„Mayibuye, Africa — Komm zurück, Afrika“

(Albert Luthuli , ehemaliger ANC-Präsident und Friedensnobelpreisträger)

Am Tag nach der Revolution sieht Pretoria aus wie Paris nach dem Sturm auf die Bastille. Die Massen haben den ganzen Militärvorort — Vortrekkerhougte — dem Erdboden gleichgemacht, auch die unterirdischen Bauten zerstört, die obeliskartigen Kirchtürme der staatstreuen calvinistischen „Nederduitse Gereformeerde Kerk“ geschliffen. In der Stadtmitte ist das Krüger-Denkmal vom Sockel gerissen worden. Strijdoms riesige Kopfbüste, so groß, daß eine menschliche Faust durch das Nasenloch paßt, ist in der Mitte entzweigebrochen und liegt, die hohlen Innenflächen feucht schimmernd, in der gleißenden Mittagssonne. Am „Voortrekker“-Denkmal, dem babylonischen Heiligtum der Buren, haben die Kämpfe bis zum Schluß angedauert.

Doch trotz der Granitmauern und ihres ungebrochenen Kampfeswillens müssen sich die in ihrer Zitadelle verschanzten Weißen der schwarzen Mehrheit ergeben. Unterhändler haben dafür gesorgt, daß es zu keinem Massaker gekommen ist. Im gestürmten Hauptquartier der SADF (South African Defence Forces), läßt Chris Hani vom militärischen Flügel des ANC („Umkhonto we Sizwe“) die Nachricht verbreiten: „Das südafrikanische Volk hat den jahrhundertelangen Oppressor endgültig besiegt. Apartheid ist tot, es lebe Azania.“

hier augen scwarz

Diese Revolution ist nicht gekommen. Die ANC-Guerilla war nie eine ernsthafte Bedrohung für den Militärapparat Südafrikas. Es hat auch keinen atemberaubend schnellen Durchbruch nach dem Schnittmuster Leipzig oder Prag gegeben. Ghandi ist hier schon Jahrzehnte am Werk: mit gewaltfreien Massenprotesten, Demonstrationen, Boykottaktionen. Die Situation zum Ende der 80er Jahre in Südafrika war die eines asymmetrischen Patts. Ein machtvoller Sicherheitsapparat der Minderheit stand einer unbeugsamen Mehrheitsbevölkerung gegenüber, die psychologisch schon längst gewonnen hatte. Doch gesiegt hat nicht die politische, sondern die ökonomische Einsicht: Apartheid verursachte zu viele Kosten, sie ist in der neuen Weltordnung nicht mehr rentabel. Auch aus den schärfsten Ideologen können Pragmatiker werden. Jetzt also soll auf dem Verhandlungswege der Machtwechsel vorbereitet werden. Die Regierung de Klerk läßt sich dabei Zeit. Ihr Reformkurs bedeutete bisher nur die schrittweise Rücknahme der Apartheid-Gesetze, die Legalisierung der Illegalität. Vor 1994 soll es nach dem Willen der Regierung keine freien Wahlen geben.

Die Weißen sind immer noch an der Macht, ihre Trutzburg — Pretoria — steht. Eine von loyalen Staatsbediensteten durchsetzte Stadt, schwül, klebrig, unförmig, in der selbst die Busse und Sitzbänke in den Staatsfarben Blau-Weiß-Orange schimmern. Eine Stadt, in der es von Polizei, Militär, versteckten Kameras, Spiegeln und demonstrativ vorgereckten MGs wimmelt. Wo man noch immer die weiße Lust an der Vorherrschaft spürt, so wie man den Arbeitsschweiß der Schwarzen riecht, die hier so geduckt wie vielleicht nur noch auf dem Land umherschleichen.

Als ich 1989 zum ersten Mal nach Südafrika flog, hatte ich gerade das Buch der schwarzen US-amerikanischen Schriftstellerin Tony Morrison „The bluest eye“ gelesen, in der ein schwarzes Kind vergeblich erträumt, blaue Augen zu bekommen, weil es damit Schönheit und Aufmerksamkeit verbindet. Ich hatte damals Angst. Weil ich ohne Journalistenvisum kam. Aber auch, weil ich eben keine blauen Augen hatte. Ich befürchtete, die Grenzbeamten würden mich Fremde mit dem gleichen Röntgenblick mustern wie jener DDR-Grenzer am Übergang Friedrichstraße kurz vor dem Ende, kurz vor der Wende, der gesehen hatte, daß die versehentlich eingetragenen blauen Augen in meinem Paß nicht stimmten, weil ich braunäugig bin. Bei der Ankunft auf dem Johannesburger „Jan Smuts“-Airport hieß uns ein Schild „Willkommen in Südafrika“ und ein ausgestopftes Zebra schielte vertrauensselig in Schwarzweiß. Die Kontrolle verlief „normal“, ich durfte passieren. Hatte ich doch etwas ganz Zentrales vergessen: Weiße in Südafrika sind immer blauäugig.

hier augen weiß und so weiter

1.

Weiß. Wer aus Europa kommt, ist hier in Afrika stigmatisiert. Weiß, die Farbe des Oppressors. Der behandelt dich wie einen Komplizen, die Schwarzen begegnen dir mit Mißtrauen und Haß. Aber so einfach scheint es immer nur aus der Ferne. „Warum ich reiste? Um zu beobachten, herumzufahren, zu fragen, zuzuhören, zu riechen, zu denken, und dann zu schreiben“, meint der polnische Journalist Ryszard Kapuscinski in seinem Buch „The Soccer War“. Er bereiste Anfang der 60er den afrikanischen Kontinent, als der die Welt noch interessierte, als 300 Millionen Menschen sich Gehör verschafften, neue Staaten und Gesellschaften entstanden, ja als Europa gar fürchtete, es könnte von Süden her erobert werden. Die Geburt des neuen Afrika! Kapuscinski beschreibt sie in atemberaubenden Geschichten. In Südafrika war er nicht. Warum auch? Wo dort zur gleichen Zeit die Uhr zurückgestellt wurde, die „Evolution rückwärts“ stattfand: Apartheid.

2.

Ich reiste mit den wenigen öffentlichen Verkehrsmitteln, die es in diesem Land gibt, durchfuhr die Wüsten und Halbwüsten. Erlebte ein Land der Ungleichzeitigkeit, der Standbilder und Monolithen im Ländlichen, und der Dynamik der Städte. Schon seit Jahren wirkt dem „social engineering“ der herrschenden Nationalpartei eine Zentripedalkraft entgegen. Die Menschen verlassen die kümmerlichen Homelands, die 13 Prozent der südafrikanischen Landmasse bedecken, weil sie überleben wollen.

Sie ziehen von der Peripherie in die Zentren, wollen keine „Grenzgänger“ mehr sein. Es geschieht das, was die Buren immer zu verhindern suchten: Afrika kommt zurück.

Man kann Apartheid mit einer faulenden Zwiebel vergleichen. Schicht für Schicht schält man. Im Inneren schließlich: der „Population Registration Act“, immer noch gültig. Ein Gesetz, das Menschen von Geburt an nach Rassen klassifiziert.

Eine Spezialkommission regelt „strittige“ Fälle: Auch im Jahr 1990 wurden wieder hunderte Menschen einer anderen „Rasse“ zugeordnet, wurden aus Weißen Mischlinge und umgekehrt, aus Malayen Schwarze, aus Indern Mischlinge, aus Mischlingen Schwarze etc. gemacht. Aber auch in diesem Jahr wurde kein Schwarzer weiß, kein Weißer schwarz.

Das Bure-Hugenotte-Brite-Jude-Portugiese-Mischling- Inder-Malaye-Xhosa-Sotho-Zulu-Ndebele-und-und- und-Schema legt sich wie ein Alp aufs Hirn: Südafrika ist Anti-Gesellschaft und man fragt sich, wie sich die eine Gesellschaft entwickeln soll, was identitätsstiftend wirken könnte, wo es sich beim heutigen Transformationsprozeß um die Umkehrung all dessen handelt, was 300 Jahre weiße Herrschaft anrichteten.

3.

Die Fischer von Muizenberg, 20 Kilometer vor Kapstadt, sortieren den Fang. Sie werfen die kleinen Fische, darunter auch winzige Haie, ins Meer zurück: to live and let live? Die Situation am Kap ist eine besondere. Hier, in der alten Hafenstadt, deren Region als erste im 17.Jahrhundert von holländischen und hugenottischen Einwanderern besiedelt wurde, herrscht unter den „Farbigen“ eine besondere Aggressivität. Kapstadt gilt einer US-amerikanischen Statistik zufolge als Stadt mit der höchsten Kriminalitätsrate der Welt. Jahrhundertelang hatte man relativ friedlich miteinander gelebt, hatten sich die Weißen mit den Ureinwohnern (den abfällig als „Hottentotten“ oder „Buschmänner“ bezeichneten Khoi San) oder hergeholten Arbeitskräften wie den Indern und Malayen gemischt, war ein prosperierender urbaner Mittelstand entstanden. Daß Apartheid diese gewachsenen Strukturen radikal zerstörte, hat man den Weißen nie verziehen: Die Menschen wurden aus der Stadtmitte in die sandigen, unwirtlichen „Cape Flats“ zwangsumgesiedelt, sie wurden deklassiert und retribalisiert, die Großfamilienstruktur zerstört. Jugendbanden wie etwa die „Mongrels“ und „Born Free Kids“ treiben seither ihr Unwesen.

Die Bahn kennt nur 1. und 3. Klasse. In der 3. drängeln sich die Schwarzen, in der 1. ist viel Platz: dort sitzen Weiße und „Colourds“ und üben sich im Lächeln. Sind das die neuen Hierarchien? Aus Rasse wird Klasse? Später stehen wir auf einem Hügel über Kapstadt und Deon du Plessis, Redakteur beim Kapstädter 'Argus‘, zeigt auf ein Stück Ödland inmitten der Stadt: „Das ist unsere Wunde: District Six. Ob die jemals heilen wird?“ Der gemischte Bezirk wurde Ende der 70er dem Erdboden gleichgemacht, heute ist er wieder „Resettlement-area“. Aber es wird nie mehr den alten District Six geben.

Mit Robben Island, der Gefangeneninsel, auf der auch Nelson Mandela jahrelang schmorte, soll umgekehrt schneller Prozeß gemacht werden: Noch sitzen politische Gefangene auf dem südafrikanischen „Alcatraz“, da kursieren schon Pläne, die Insel solle zu einer Touristenattraktion samt Luxushotel umgebaut werden. Jede zweite Zelle also eine Toilette? Die Planer schworen, Nelson Mandelas Zelle nicht zu vernichten. Wie gnädig.

Für Schwarze und Weiße gibt es nicht viele gewachsene „graue“ Orte in Südafrika. Heute kann man zumindest Bücher kaufen, in denen steht, wie weit das Zusammenleben schon fortgeschritten war, wie stark auch die städtische schwarze Lebenskultur gediehen war, bevor die von den englischsprachigen Weißen wie „hellhäutige Kaffer“ behandelten Buren die Wahlen von 1948 gewannen und sich daran machten, ihr „gelobtes Land“ mit Gottes Segen zurechtzutrimmen. Was, so fragt man sich, wäre in Südafrika geschehen, wäre nicht rigider Calvinismus, sondern Katholizismus Religion gewesen? Der kennt zumindest die Beichte und Vergebung. Die Rache der Buren war teuflisch. Auch in Johannesburg wurde ein gemischtes Viertel namens Sophiatown plattgewalzt: Die Menschen mußten nach „South Western Township“ — besser unter dem Namen Soweto bekannt — ziehen. Auf den Trümmern Sophiatowns entstand ein weißer Ort namens „Triomf“.

Wie über diese kranke Topographie reden, weiße Enklaven in einer schwarzen Welt? Jede noch so kleine Stadt hat ihre Wunde, „ihr“ Township, hinter dem Berg, am Ende der Autobahn, mit nur einer Zu- und Abfahrt: für Polizei und Militär. Das Township als Falle. In Kapstadt ließ man sich schon Ende der 30er bei der „Entkernung“ vom Architekten Le Corbusier beraten, der sich wiederum an den „Garden Cities“ des Engländers Ebenezer Howard orientierte. Dessen Modell diente bekanntermaßen der Dezentralisierung des englischen Proletariats um die Jahrhundertwende.

Die Buren sind keine Afrikaner, obwohl sie sich gerne als „Stamm der Afrikaaner“ bezeichnen. Immer noch sind sie nicht auf dem Kontinent angekommen, haben nicht die Reize und Chancen der afrikanischen Gesellschaft erkannt, wissen mehr über das europäische Wetter als die Zustände im nächsten Township. Sie haben sich manisch von allem anderen abgegrenzt, waren nicht zum Zusammenleben bereit. Sie fahren auf ihren Autobahnen, bewirtschaften ihre Farmen, gehen auf ihre Safari und leben in ihrem Milieu, das sich der europäischen Kultur verpflichtet fühlt. Doch sie sind auf seltsame Weise kulturlos, abgekapselt, inzestuös, verpaßten Aufklärung und bürgerliche Revolution. Afrika? Afrika sollte immer draußen bleiben.

„Als ich klein war“, erzählt mir eine südafrikanische Freundin in Kapstadt, „sagte ich einmal zu meiner Mutter: ,Mama, wenn ich groß bin, fahr ich nach Afrika.‘ ,Du Dummerchen‘, meinte meine Mutter, du bist doch schon hier!‘“ Die Buren flohen vor den Briten aus der Kap-Region, auch vor deren Liberalismus, der zur Sklavenbefreiung im 19. Jahrhundert führte. Als dann im Norden das Gold entdeckt wurde, nahm der Antagonismus zwischen den Weißen seinen traumatischen Lauf. Die Reichtümer wollten sich die Briten nicht nehmen lassen; sie führten um die Jahrhundertwende den „Bruderkrieg“. Es waren die Briten, die die Buren in die ersten Konzentrationslager der Welt steckten und als weiße Parias für den industriellen Aufbau benutzten. Einmal mehr sahen sich die Buren als Volk auf der Flucht. Schon ihr großer Treck zog sich wie eine gefräßige Schneise durch Land und Leben der Ureinwohner. Nach 1948 sortierten sie aus, siedelten um, trieben Menschen aus dem Land, so als sei die Gesellschaft ein Verschiebebahnhof, ein Spiel auf dem schwarz-weißen Schachbrett. 17 Millionen Menschen wurden seit 1913 allein wegen Vergehens gegen die Paßgesetze verurteilt, Hunderttausende zwangsumgesiedelt, in Einzelhaft gehalten, Zehntausende ermordet, Hoffnung und Utopie systematisch zerstört.

4.

Jonathan Clark lernte ich bei seinen Schwiegereltern kennen: in deren geräumig-kolonialem Haus in Stellenbosch saßen wir bei gut-burischer Küche beieinander und der wuchtige Herr des Hauses gab der dummen Fremden aus Europa zwei Leitsätze mit auf den Weg: 1. Apartheid gab es auch schon unter den Briten, sie ist also keine burische Erfindung. 2. Den Schwarzen geht es hier nicht so schlecht, wie viele glauben; man schaue sich nur den Rest Afrikas an ...

„Ich brauche kein schlechtes Gewissen zu haben, ich tue mein Bestmögliches hier“, sagt mir später Jonathan. Die liberalen, meist englischsprachigen Weißen sind von Schuld geplagt, schließlich haben sie auch von Apartheid profitiert. Jonathan ist Lehrer im mit 300.000 Bewohnern größten schwarzen Township Kapstadts: Kayelitsha. Die Lhulaza-Schule wurde erst nach den schweren Unruhen Mitte der 80er eröffnet. Sie ist „besser“ ausgestattet als viele andere, Jonathan unterrichtet das rare Fach Naturwissenschaft. Die bestandenen Abiturquoten sind die höchsten in der Kap-Region, was die schwarzen Lehrer in einen schweren Gewissenskonflikt bringt: „Wir wollen doch nicht Handlanger des Systems sein“, sagt Gideon Nohamba und Charlie Tonga pflichtet ihm bei. Beide waren im Herbst 1990 mit an der Gründung der nichtrassistischen Lehrergewerkschaft SADTU beteiligt. Die Schule liegt einen Steinwurf von Gebäuden der ungeliebten schwarzen Township-Verwaltung entfernt. Einen Steinwurf weiter blickt man über ein Meer von Squattercamps, Wellblechhütten der Landflüchtlinge, dazwischen Müllberge, Dreck, Sand. Von hier kommen viele Kinder zum Unterricht.

Die wenigen weißen Lehrer sitzen unter sich, es gibt kaum Gespräche über die unsichtbare Linie zu den schwarzen Kollegen hinweg. Die Afrikaans-Lehrerin will sich mit mir auf Deutsch unterhalten: Smalltalk in der Kriegszone. Um ein Gespräch mit dem Direktor komme ich nicht herum. Es wird ein Monolog: „Wir sind so froh, daß de Klerk jetzt an der Macht ist. In den 70ern sprach ich mit einem Amerikaner, der mir von Bürgerrechten und Equal Rights erzählte. Und ich dachte, der Gedanke der Demokratie, daß alle Menschen gleich seien, ist Quatsch, das geht doch nicht!“, lacht der Wendehals. Seinen Vorgänger eskortierten die SchülerInnen vor einem Jahr zum Auto: sie gaben ihm fünf Minuten, um zu verschwinden. Ob der Direktor von heute bessere Chancen hat?

Es gibt viele Weiße, die Apartheid wegreden, eine kleine Panne aus allem machen wollen. Vergangenheitsbewältigung und Reue sind auch in Südafrika schwere Worte. „Eine neue Regierung braucht Leute wie uns, wir werden Mittler sein“, sagt Jonathan. Und Menschen wie den Kunstlehrer, der ganz am Ende der kargen Backsteinhäuser die Schüler ernstnimmt. Er zeigt mir Zeichnungen ihrer Träume: Blut, sexuelle Gewalt, Tod, Särge, Beerdigungen, brennende Häuser, Polizei. Ganz normale Träume von Kindern in den Ghettos, atemberaubend. Als wir heimfahren, werden die Fahrzeuge der Township-Verwaltungsangestellten, die sich weigern, wie von der Opposition gefordert, zurückzutreten, von Polizei- und Militärfahrzeugen eskortiert. Wie jeden Tag, sonst gibt es noch mehr Tote. Allein an einem Tag, erzählt mir Jonathan später, wurden ein Schüler erstochen und ein Mädchen vergewaltigt. Einfach so.

Die Öffnung der weißen Schulen hält Jonathan für eine Farce. Er befürchtet, daß seine begabtesten Schüler weggeholt werden, um sie in weißen innerstädtischen Schulen als Aushängeschilder zu benutzen. „Die Schulen hier vor Ort müssen durch und durch erneuert werden. Und zwar sofort.“ Der ANC-Verantwortliche für Bildung, John Samuel, spricht von einer „Erosion der Lernkultur“, der Bildungsstand sei eine „nationale Katastrophe“. Das sind die Schattenseiten des auch vom ANC-mitgetragenen Schulboykotts seit den Aufständen Mitte der 70er. Da man nicht am Punkt Null anfangen könne, so Samuel kleinlaut, müsse man innerhalb der bestehenden Strukturen arbeiten. Die Hälfte aller SüdafrikanerInnen ist jünger als 18. Die industrienahe „Urban Foundation“ spricht schon jetzt von einer „verlorenen Generation“ Jugendlicher. Die Industrie war eine treibende Kraft für den Reformkurs. Man will als Industrieland international nicht den Anschluß verlieren, braucht Fachkräfte und wittert einen gigantischen schwarzen Konsumenten- Markt.

5.

Es war in Namaqualand am Westkap, dünn besiedeltes Gebiet mit gerade mal 60.000 Einwohnern auf 48.000 Quadratkilometern, wo ich die spannendsten politischen Gespräche führte. Etwa in Springbok, Hauptstadt der Kupferminen, im gerade neu eröffneten Büro des ANC, wo wir über die deutsche Vereinigung und das „Modell Sozialdemokratie“ diskutierten. Von Sozialismus sprach keiner mehr. Der Reformprozeß kommt hierfür zu spät, aber vielleicht zu früh für einen „dritten (afrikanischen) Weg“. „Wir sind froh, wenn es hier keinen Manchester- Kapitalismus wie in Osteuropa gibt. Wir müssen aufpassen, daß die Weißen nicht, nachdem sie alles verstaatlichten, sich nun durch radikale Privatisierung und Deregulierung aller von ihnen geschaffenen Probleme entledigen.“ Große Hoffnung setzt man auf die Kraft der Gewerkschaften, die auch im Kampf mit den Kupfer-, Gold- und Diamanten-Minengesellschaften erfolgreich sind. Die Menschen hier, Nachfahren der Khoi San, von den Apartheid-Kartographen als „Mischlinge“ eingestuft, sind auf beeindruckende Weise selbstbewußt und ungebrochen. In Khubus, einer 2000-Menschen-Siedlung an der Biegung des Orange-Flusses, traf ich Neville, ANC- Aktivist in Alexander-Bay, einer kleineren Stadt am Atlantik nahe der Grenze zu Namibia. Der etwa 20jährige Neville erzählte schmunzelnd von seiner ersten politischen Diskussion mit einem Weißen: Er hatte in einem ANC-T-Shirt einen Laden betreten. Daraufhin meinte der Ladenbesitzer, er solle sich nicht vom ANC täuschen lassen, der sei doch überhaupt nicht demokratisch. Neville: „Ausgerechnet der muß mir was von Demokratie erzählen!“ Er sagte dies ohne Haß. Eher ist es Bedauern und Mitleid, was aus vielen Schwarzen spricht.

6.

In Potchefstroom aber herrscht Haß. Mehrere Male fuhr ich durch die Stadt und jedesmal amüsierte mich das Begrüßungsschild „Zukunftsstadt“. Die Städte hier ähneln sich alle. Sie sind geschichtslos, flach, eindimensional, so wie wahrscheinlich in allen „jungen“ Einwanderungsländern. Auf der großzügig angelegten Hauptstraße spielt sich alles ab, laufen die von Bier und „boerewors“ (Bratwurst) aufgeschwemmmten Buren mit den Schnurrbärten, kurzen Hosen und Wollkniestrümpfen herum oder blicken hinter Sonnebrillen und mit Cowboyhüten auf den Köpfen stur aus den „Bakkies“, ihren Geländewagen. Als Fremde stößt man nicht auf Interesse, sondern auf Ablehnung: überall verkniffene, mißtrauische Gesichter. In der Landwirtschaftlichen Kooperative sagt ein Farmer, nie werde er sein Land aufgeben, auch wenn er hochverschuldet sei, niemals werde er einen schwarzen Nachbarn akzeptieren. Doch auch hier, wie in den USA, gehen trotz aller Subventionen die kleinen Bauern zugrunde. Ihre Gewehre stehen griffbereit im Schrank.

Potchefstroom war die erste Siedlung des historischen burischen Trecks im Transvaal. 1838 „schenkte“ der Stamm der Barolong den Siedlern großzügig Land. 1971 enteignete die weiße Stadtverwaltung Nachfahren dieses Stammes kurzerhand ohne Entschädigung und siedelte sie aus Machaviestad um — ins Township Ikageng. Es ist schon Abend, als wir ankommen. Die Männer warten auf uns in einem der kleinen Norm-Häuser. Auch hier wieder, nach Überwindung des Mißtrauens, große Freundlichkeit. Später fahren wir mit einigen von ihnen hinaus aufs Land und sie zeigen uns, wo sie früher gelebt, ihre Tiere geweidet und Windhunde gezüchtet hatten. Im rötlichen Schimmer der untergehenden Sonne, hören wir einen Schakal heulen. Sie dürfen nur mit besonderer Erlaubnis die Gräber ihrer Ahnen besuchen. Entschädigung oder gar Rückgabe ihres Landes? Der Stadtangestellte A. Viljoen lehnt das kategorisch ab. „Sie können das Land ja kaufen. Jetzt ist es jedem Südafrikaner erlaubt, Land zu erwerben.“

Potchefstroom ist nur 100 Kilometer von Johannesburg entfernt. Und doch: Es ist die typische Kleinstadt, die von der rechten Apartheid-Partei „Konservative Partei“ regiert wird und wo Schwarze wahrscheinlich nie eine Chance haben werden, wo sie für den „baas“ immer der „ou groute“ — der „große Junge“ bleiben werden. Deswegen gehen sie nach Johannesburg. Im Jahr 2000, schätzt besagte „Urban Foundation“, wird Johannesburg 12 Millionen Einwohner zählen, Kapstadt vier und Durban sechs Millionen — dann werden 70 Prozent der Menchen in den Städten leben.

„Egoli“, wie die Schwarzen die gerade mal 100 Jahre alte Goldgräbermetropole Johannesburg nennen, sieht von weitem wie Dallas aus. Von nah ist es im Kern eine afrikanische Stadt mit all dem bunten Straßenhandel und den inneren städtischen Bezirken wie Hillbrow oder Berea, in denen bereits 40 Prozent der Bewohner schwarzer Hautfarbe sind. Es gibt kaum noch rein weiße Enklaven wie etwa Rosebank im Norden, wo man hinter hohen Mauern und eingelullt vom zärtlichen Tuckern der Swimmingpool-Reinigungsmaschine glauben kann, daß die Welt noch in Ordnung und nur der Gärtner schwarz ist. In die ärmeren weißen Viertel zogen schon vor Jahren mittelständische indische oder farbige Familien ein. Doch die Mehrzahl der Schwarzen muß die 20 Kilometer von und nach Soweto fahren, am Feierabend bis zu 500.000 Menschen stündlich. Dort gibt es zwar auch Villenviertel (die Fußball- und Boxerstars, die Gauner und Dealer können sich gigantische Paläste bauen) — jedoch auch riesige Wellblechansiedlungen. Zwischen 1970 und 1980 wurden nur 5.000 neue Häuser gebaut. Die Landflucht ließ von 32 Millionen SüdafrikannerInnen sieben Millionen zu BewohnerInnen von Squattercamps werden.

7.

Es gibt ein Wort, das für Südafrika steht: Gewalt. Der Reformkurs de Klerks 1990 war wie der Deckel, der vom kochenden Topf genommen wurde; seitdem ist die Kriminalität in den Ghettos und in den städtischen Vierteln enorm gestiegen. Kritiker meinen, die Polizei habe sich nie um die Armutskriminalität geschert, sondern sich nur um die Zerschlagung des politischen Widerstands gekümmert. Auf 1.000 Menschen kommen gerade mal zwei Polizisten. Also griff man zur Selbsthilfe in politisch motivierten Straßenkomitees. Oder gründete Gangstersyndikate und Jugendbanden, die sich mit ungeahnter Brutalität bekämpfen, um ihre Claims abzustecken. In den weißen Vierteln boomen private Wachfirmen, nachts liegt ein irrsinniges Gemisch aus Hundebellen und schrillenden Alarmanlagen in der Luft. Man spürt in Gesprächen die Angst vor der großen Abrechnung und den Unwillen zur „Umverteilung“, viel Dämonisierung ist am Werk. Ständig ist von Einbruch, Diebstahl, Alarmanlagen, vergitterten Fenstern und Männern, die vor dem Haus lauern, die Rede. Jeder Mensch, der unter einem Baum Schatten sucht, wird verdächtig.

Doch die Gesellschaft ist tatsächlich auf eine Art gewalttätig, wie wir es in Europa nicht kennen: Weiße Familienväter löschen ihre Familien aus oder verunglücken zu Hunderten, wie an Weihnachten geschehen, tödlich auf den Autobahnen. Man gewöhnt sich an die täglichen Todesmeldungen: Ein Bauer erschlägt einen Arbeiter, nur weil der ein Huhn gestohlen hat oder ein rechter Weißer ermordet einen Schwarzen aus „Übungsgründen“. Weiße Villen werden ausgeraubt, die Besitzer in ihren Betten erschlagen.

Die Zeitungen sind voller Schreckensnachrichten von Menschenhändlern, die mosambikanische Flüchtlinge verkaufen, von Jugendlichen, die drei Penner ermordeten und verbrannten, von rituellen Morden in den Homelands. Gewalt wird alltäglich. Jedes Massaker in der Welt, jeder jugendliche Aufstand wie etwa der in der Mainzer Straße Ostberlins dient zur Rechtfertigung: „Seht, wir sind wie ihr, ihr seid wie wir!“ versuchen die Medien zu suggerieren. Hier ist noch die Prügelstrafe für kleinere Delikte üblich. Und auch schwarze Lehrer maßregeln ihre Schüler mit der Peitsche. Für alles müssen die Menschen hier mit dem Körper büßen, so entstehen die Narben. „To live in Africa is to know how to die in Africa“, zitiert der Dichter Wally Serote den Großwildjäger und Schriftsteller Hemingway auf einer Podiumsdiskussion über die Gewalt. In Südafrika, ist die bittere Erkenntnis, wurde der Tod zum „Way of Life“.

Am fatalsten ist die Gewalt dort, wo sie den politischen Bereich moralisch zersetzt. Wo endlich der gewaltfreie Dialog greifen sollte (von ziviler Gesellschaft oder Demokratie kann man nicht reden), obsiegte der „traditionelle“ Machtkampf mit Äxten, Macheten und Speeren, der von Inkatha-Chef Buthelezi dem ANC aufgezwungen wurde. Mittlerweile sind Inkatha, der Sicherheitsapparat und auch der ANC solcherart verstrickt, daß der Ruf nach einem neutralen Schlichter immer dringlicher wird. Doch wer könnte das sein? So wie es keine eine Öffentlichkeit gibt, so wenig können die Exponenten des langjährigen Widerstandes — heißen sie Desmond Tutu, Frank Chikane, Alan Boesak, Nadine Gordimer oder Breyten Breytenbach — trotz verzweifelter Appelle etwas ausrichten. Zu früh hat die EG ihren Druck auf Südafrika aufgegeben, hat das getan, was der Jazzmusiker Hugh Masakela kritisierte: „Die Weißen zu belohnen wäre als wenn man sagte, wie toll, Hitler hat die Gasöfen ausgemacht.“

8.

UNO ist im weißen Südafrika ein Schimpfwort. Schon bei der Frage der Rückführung der 40.000 Exilierten hat die de-Klerk-Regierung nur langsam der verhaßten Organisation die Tür einen Spaltweit geöffnet. Eine Koordination wie in Namibia wird man auf keinen Fall dulden. Doch gibt es zur UNO eine Alternative? Kann, wie der ehemalige Politiker Van Zyl Slabbert fordert, Südafrika seine eigenen „Peace Keeping Forces“ aufstellen, nachdem die Herrschenden 40 Jahre Krieg gegen die eigene Bevölkerung führten? Eine „neutrale“ Macht aus jenem Sicherheitsapparat rekrutieren, der immer Handlanger der Rassisten und Feind der Menschen in den Townships war?

Viel ist am Kap der guten Hoffnung in Bewegung geraten, politisch, sozial, besonders psychologisch. Die Menschen gehen aufeinander zu, praktizieren täglich Versöhnungsarbeit, kümmern sich um die gemeinsame Ausbildung ihrer Kinder, glauben an die Zukunft. Optimismus in einem Land zu entwickeln, das die Depression zur Normalität erklärte, ist eine hohe Kunst. Doch die Gräben sind tief, das Mißtrauen, die Angst stecken in den Knochen. Und die klaren Gesten der Regierung fehlen: eine fiskalische Gleichberechtigung im laufenden Haushaltsjahr etwa, der Beginn der Umstrukturierung der Schulen, der sichtbare Bau von Häusern, massive Ausbildungsprogramme. Ein lächelnder de Klerk reicht nicht. Es geht um Zeichen der Reue, um Entschädigung.

Die Welt zeigt sich immer noch an Südafrika interessiert. Doch auf jenen „Marshall“-Plan, von dem Wissenschaftler redeten, um die schamlose Ungleichheit zwischen Arm und Reich zu vermindern, wird man nach dem Golfkrieg und den Investitionsströmen Richtung Osteuropa lange warten. Kann so überhaupt die friedliche Koexistenz gedeihen, jenes „Nation Building“, von dem der Redakteur der größten schwarzen Tageszeitung, Aggrey Klaaste vom 'Sowetan‘, so überzeugt ist? Kann man in Südafrika „vergeben und vergessen“, wie es im Nachbarland Namibia propagiert wurde? „Apartheid“, sagt ANC-Verfassungsexperte Albie Sachs, „war und ist ein gigantischer Teufelskreis.“ Er sieht im Sport und in der Kultur identitätssstiftende Faktoren, durch die alle SüdafrikanerInnen Stolz und Freude entwickeln könnten. Und er glaubt an die Kraft einer „Bill of Rights“, die die Kultur der Repression durch eine des Rechts ersetze.

„Langsam lernen wir Gesellschaft“, ist die Antwort J.P. de Langes, Vorsitzender des „Broederbondes“, des Geheimbundes der Buren. Am Ende des 20. Jahrhunderts klingt ein solcher Satz tragisch. Beim ersten heimlichen Treffen mit südafrikanischen Intellektuellen und Industriellen in Dakkar hatte der damals noch vom Exil aus operierende ANC in einem Abschlußkommunique gesagt: „Wenn der Bure nach Hause kommen will, steht ihm die Tür offen. Aber nur als gleichberechtigter Landsmann, als Afrikaner.“

Man kommt mit schwerem Herzen nach Südafrika und man verläßt dieses schöne Land mit blutendem Herzen. Immer noch zählt Südafrika seine Wunden, und es zählt und zählt ...