Höfliche Experten und zaghafte Kurzarbeiter

Kaum Interesse für Umschulungs- und Weiterbildungsangebote im Berliner Werk für Fernsehelektronik/ Weiterbildungsinstitute stürzen sich auf verunsicherte Kurzarbeiter/ Kurse bieten jedoch keine konkrete Perspektive  ■ Von Annette Rogalla

Berlin. Ein letztes Mal würden die Massen durch die Tore des Werks für Fernsehelektronik in Berlin-Treptow strömen. Über 4.500 kurzarbeitende Männer und Frauen würden kommen, um sich im ehemaligen volkseigenen Paradebetrieb über beruflichen Fortbildung und Umschulungsmöglichkeiten zu informieren. Auf der viertägigen Mammutveranstaltung „Was tun nach der Kurzarbeit“ würden über achtzig Prozent der Kurzarbeiter eine Antwort, sprich: einen Platz in einem Fortbildungskurs oder ein krisensicheres Umschulungsangebot finden.

Doch es kam alles ganz anders als es sich Stefan Teich, Leiter der Abteilung Aus- und Fortbildung beim Werk für Fernsehelektronik GmbH, ausgemalt hatte. Bei der letzten Veranstaltung in der alten Werkskantine zählt er nur 62 Frauen und Männer. An den vier Tagen interessierten sich gerademal 162 Leute für das hier angebotene Leben nach der Kurzarbeit.

Nur die geladenen Gäste sind vollzählig erschienen: zwei Vertreter vom Arbeitsamt IV und etwa 30 Repräsentanten von neun sogenannten Bildungsträgern [kenn nur hosenträger. sezza]. Ganze vier Minuten Zeit haben sie, für ihre Firma und deren Weiterbildungs- und Umschulungskurse zu werben. Strahlend lächeln die überwiegend jungen Männer die „lieben Damen und Herren“ an. „Höflich sind se ja“, meint der so umschmeichelte Fernsehwerker Dieter Harz. „Hoffentlich“, denkt er, „gibt es keine Altersbeschränkung für die Kurse.“ Mit 42 Jahren fühlt Harz sich keineswegs zu alt, um etwas Neues anzufangen, schließlich hat er seinen Ingenieur für Informationsverarbeitung im Fernstudium gemacht. Von den 8.700 Beschäftigten, die vor der Wende im Werk für Fernsehelektronik arbeiteten, werden zum Stichtag 30.6., wenn das Rationalisierungsschutzabkommen ausläuft, maximal 2.700 übrigbleiben. „Aber da will ich mich nicht festlegen“, sagt Stefan Teich. Er hat gehört, daß im Mai die nächste Kurzarbeiterwelle erwartet wird. Die meisten, die im Werk für Fernsehelektronik arbeiten, wohnen auch in Treptow. Wo sich einst Produktivität massierte, ballt sich jetzt sozialer Sprengstoff zusammen. Ende März zählte die Arbeitsverwaltung 9.300 Arbeitslose und 27.500 Kurzarbeiter, drei Viertel von ihnen auf Null- Arbeitszeit gesetzt. Zum gleichen Zeitpunkt wurden 254 offene Stellen gemeldet. Folglich konzentriert man sich auf die von Bonn propagierte „Anpassungsqualifizierung“.

Fast 170 diverse Fortbildungs- und Umschulungsmaßnahmen vermittelt das Arbeitsamt. Die Palette reicht vom Maurer, Maler, Zimmermann, von der Näherin zur EDV- Sekretärin, über Multiplikatoren- Trainings-Seminare bis hin zum Kommunikationselektroniker. Eine Berufsbedarfsanalyse liegt den Arbeitsamtexperten nicht vor. Niemand kann sagen, welche Firmen sich im Industriezentrum um Treptow niederlassen werden.

„Auf diese Härte der Marktwirtschaft war niemand vorbereitet“, sagt Ausbildungsleiter Teich. Er kennt seine ehemaligen Kollegen, weiß, daß viele nach den ersten Absagen auf ihre Bewerbungen in Resignation verfallen. „Die meisten haben den Kopf ganz tief in den Sand gesteckt“, findet er eine Erklärung für geringes Interesse für seine Informationsveranstaltungen.

Dieter Harz hätte auch nicht den Weg ins Werk gefunden, wäre ihm am Morgen nicht zufällig der Prospekt einer der anwesenden Weiterbildungsfirmen in die Hände gefallen. Eine zehnmonatige Fortbildung zum Marketingmanager, die könnte ihm schon allein wegen der angebotenen EDV-Ausbildung gefallen. Auf eine Berufsbeschreibung verzichtet der Prospekt. Dieter Harz hofft, darüber während der Veranstaltung aufgeklärt zu werden.

Mit Schwung eilt nun der „Weiterbildungsexperte“ Neumann ans Pult und redet über „lange, 25jährige Traditionen“, verweist auf „solide Erfahrungen“. Der Jungdynamische vertritt die Firma, die den von Harz gesichteten Managerkurs anbietet. Mit kreidegeweißter Stimme singt er die Crème de la Crème der Arbeitgeber ins Mikrofon: Philipp Morris, Nixdorf, Mercedes Benz. Renommierte Firmen würden sich in seinen Weiterbildungsinstituten umsehen. Kein Wort verliert der Smarte darüber, welche Fortbildungslehrgänge seine Firma erfolgreich anbietet, wieviele Kursteilnehmer bereits Arbeitsverträge in der Tasche haben.

Daß die zehnmonatigen Kurse gewöhnlich nicht mit einer Prüfung vor der Industrie- und Handelskammer abschließen, daß die Teilnehmer keine staatlich anerkannten Berufsabschlüsse nachweisen können, das sagt weder Neumann noch einer der anderen Herren. Alle werfen immer wieder die Zauberformel „EDV“ in den Raum. Das trifft die Zuhörer geradewegs in die Tiefen ihrer beruflichen Unsicherheiten. Mindestens jeder zweite der angesprochenen Weiterbildungskurse trägt diese drei Buchstaben.

Dieter Harz wird sichtlich nervös. Gegen Ende der Vorstellungsrunde hat er bereits das Interesse an einem Einzelgespräch mit dem Firmenvertreter verloren. Fühlt er sich von den vielversprechenden Firmenrepräsentanten überfahren, weil sie auf ein rasches Einschreiben in die Kurse drängen? Harz murmelt ein „Ich weiß nicht“, faltet seinen Notizzettel, auf dem er Neumanns Telefonnummer notiert hat, zusammen und geht. Gut ein Drittel der Zuhörer folgt ihm. Kaum jemand bittet um eine Einzelberatung. Frustiert das die Weiterbildungsanbieter nicht? „Keine Sorge, wir kriegen die Kurse voll. Die überlegen sich das am Wochenende und melden sich am Montag telefonisch an.“