„Viele Westler sind wahrnehmungsunfähig“

■ Interview mit Rosi Will, inzwischen „abgewickelte“ Professorin für Rechtswissenschaften an der Humboldt-Universität und Mitverfasserin des Verfassungsentwurfs am Runden Tisch/ „Abwicklung“ — ein Schlachtfeld zwischen Ost und West um die Aneignung der Vergangenheit

taz: Sie haben weiland am Runden Tisch der DDR an einem dann später abgelehnten Entwurf für eine neue Verfassung mitgearbeitet, der sehr viel moderner und fortschrittlicher war als das Grundgesetz. Was wird denn nun aus dieser Arbeit?

Rosi Will: Ich arbeite daran insofern weiter, als ich Mitglied des Kuratoriums für eine demokratische Verfassung im Bund deutscher Länder bin. Dieses hat sich zur Aufgabe gestellt, jetzt nach vollzogener Vereinigung die Verfassungsdiskussion in Gang zu bringen. Im ersten Anlauf ist es ja durchaus gelungen, die Verfassungsfrage doch noch im Einigungsvertrag unterzubringen — im Artikel 5 wird die Option offengehalten, in bestimmten Punkten das Grundgesetz zu ändern. Ich denke schon, daß das eine Wirkung der von uns am Runden Tisch geführten Debatte und auch unserer Bemühungen war, die Diskussion nach Ablehnung des von uns vorgelegten Entwurfes weiterzuführen. Nun gibt es vom Kuratorium aus das Bestreben, einen neuen Alternativentwurf vorzulegen, der die Bestimmungen im Einigungsvertrag aufnimmt im Sinne detailliert formulierter Artikel. Ich für meinen Teil will dabei über die Schwächen des Entwurfes vom Runden Tisch hinausgehen.

Was heißt das?

Das heißt, zum Beispiel die Finanzverfassung und die Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern zu behandeln, da war unser Entwurf kaum über das Grundgesetz hinausgegangen. Dort gab es einen wunderschönen Katalog der Grundwerte, der sehr weit geht, und den sollte man auch erhalten. Aber im staatsorganisatorischen Teil gab es vieles, was schlicht ein Abklatsch des Grundgesetzes darstellte.

Und welche Chancen geben Sie diesem Neuentwurf angesichts der Machtverhältnisse in Bonn?

Also beim Einigungsvertrag hat schließlich doch die SPD die Verfassungsfrage über die Hereinnahme des Artikels 5 thematisiert, obwohl es anfangs nicht danach aussah. Und bei den Koalitionsverhandlungen wurde es sogar noch breiter thematisiert seitens der FDP. Darüber war ich selbst erstaunt. Die historische Dimension der Einigungsprobleme ist einfach verfassungsträchtig. Vielleicht nicht binnen Zweijahresfrist, die der Einigungsvertrag über seinen Artikel 5 einräumt. Doch die Bundesrepublik als solche wird sich, weil sie eine andere geworden ist, auch in verfassungsrechtlicher Hinsicht bewegen müssen. Was man dann vielleicht in zwei Jahren bearbeiten kann, ist zum Beispiel das Staatsziel Erhaltung der Umwelt oder eine neue Verteilung der Kompetenzen zwischen Bund und Ländern. Aber das entbindet uns ja nicht davon, die Konzeptionsfragen schon jetzt zu stellen und sich vorzubereiten.

Das Anliegen der Entwürfler, wenn ich es richtig verstanden habe, war bisher, die normativen und damit doch recht starren Werte des Grundgesetzes zu ersetzen durch sehr viel modernere und flexiblere Verfahren der gesellschaftlichen Konfliktregelung. Soll das hierbei auch zum Tragen kommen?

Im staatsorganisatorischen Teil wird das sicher eine große Rolle spielen, da hat das auch viel mehr Platz als bei der Grundrechten. Aber es geht nicht um die Installierung von Verfahren der Verfahren wegen, sondern um eine Öffnung der Verfassung und damit der Gesellschaft.

Das Stichwort lautet hier, zumindest im Westen, „zivile Gesellschaft“. Erst die 68er-Bewegung, so argumentieren die Linksliberalen, habe die einst von den Alliierten eingeführte parlamentarische Demokratie in der alten BRD zu einer echten Demokratie mit der Möglichkeit vielfältiger ziviler Konfliktregelung und Einflußnahme gemacht, in der die Linken auch durchaus eine gewisse kulturelle Hegemonie innehatten. Diese antiautoritäre und basisdemokratisch orientierte Phase fehlt der alten DDR, auch wenn sie vielleicht andere Werte repräsentiert. Kann eine Verfassung das überhaupt überspringen?

Natürlich spielt bei uns die Diskussion um die zivile Gesellschaft eine Rolle, und auch das, was Habermas zur nachholenden Revolution gesagt hat. Ich muß sagen, daß ich diese ganzen Motivierungen, die die westlichen Linken für sich vorgenommen haben, nicht einfach für übertragbar halte. Ich denke, es kann auch nicht so sein, daß nun aus Anlaß der deutschen Einigung in der DDR Potentiale gesucht werden, um das zu erreichen, was man noch nicht erreicht hat. Und wenn man die dann nicht findet, wendet man sich enttäuscht ab und sagt: Da ist nix zu holen. Wenn man aber der Meinung ist, daß es in Ost und West zwei verschiedene Kulturen gab, dann müßte man auch akzeptieren, daß die Leute nicht plötzlich Gleiches im Kopf haben. Aber das wird auch in der Linken nicht akzeptiert: Sie sehen hier auch nur den Zusammenbruch und nicht die Hinterlassenschaften. Zugegeben, ich kann das, was da ist, was da auch noch kommen kann, nicht beschreiben. Aber ich wünsche mir in allen Lagern Verfahren, bei dem die letzten 40 Jahre nicht einfach unter dem Schrei „schneller, schneller!“ weggeworfen werden.

Und wie könnten diese Verfahren aussehen?

Indem man den Menschen den Atem läßt, mit ihren Erfahrungen in der neuen Umgebung umzugehen, und ihre Sichtweisen läßt.

Ich kenne bisher kein Beispiel einer Institution oder Gruppe, wo Menschen aus Ost und West sich problemlos verstehen und sich gegenseitig anregen. Das scheint auch erklärbar: Wenn ein System gesiegt hat, gibt es keine Insel der Seligen, wo gutwillige Sieger die gedemütigten Besiegten trösten.

Das kann auch nicht klappen angesichts der realen Abläufe im Einigungsvertrag, und schon gar nicht im schnellen Zugriff. Und je mehr man die Zeiten verkürzt, in denen das gemeinschaftliche zu Entwickelnde gefunden werden soll, umso schlimmer. Am deutlichsten sichtbar — und auch mich am meisten tangierend — ist das bei der Rolle der Frauen. Siehe der Konflikt um die Abtreibung. Die westliche Frauenbewegung wird sich daran gewöhnen müssen, daß hier mehr war als eine pur ökonomische Einbindung der Frauen in der Gesellschaft. Im Osten sind in allen Bereichen sehr viel mehr Frauen repräsentiert, und ich denke sogar, zu diesen Frauen gehören auch andere Männer.

Letzteres bezweifle ich, mit Verlaub. Und die Berufstätigkeit von Frauen hat zwar deren ökonomischen Eigenständigkeit gefördert, was natürlich wichtig ist, aber ihre politisch-kulturelle Emanzipation hat sie keineswegs gefördert. Wahrscheinlich hat sie die Frauen sogar eingemännert, also in scheinbar neutrale und in Wirklichkeit doch durch und durch männlich geprägte Wert- und Arbeitssysteme eingepaßt. Das bringt doch nichts.

Das bringt nichts? Wenn ich Professorin bin und zwei Kinder habe, warum bringt das nichts?

Um Gottes willen, das will ich nicht in Frage stellen. Ich meine damit, daß die Frauen solange mit Doppel- und Dreifachbelastungen im Haushalt, beim Kinderaufziehen und bei der Beziehungsarbeit für ihre Berufstätigkeit draufzahlen, solange der Feminismus daran gehindert wird, die Geschlechterverhältnisse gehörig durcheinanderzuschütteln. Am extremsten ist das vielleicht an der Sowjetunion abzulesen.

Da sind die Frauen aus der Ex- DDR sozial gesehen aber schon viel weiter, was natürlich auch am hohen Industrialisierungsgrad der DDR lag. Man sieht das auch an der großen Zahl der Frauen im intellektuellen Bereich, die oft eine Herkunft haben, mit der sie im Westen keinerlei Chancen gehabt hätten. Das soziale Phänomen besteht auch darin, daß sich das Geschlechterverhältnis ändert, sobald die Frau nicht mehr körperlich, sondern geistig arbeitet.

Nun fügt sich aber nicht das Beste aus Ost und West zusammen, sondern das Schlechteste. Nämlich nicht die ökonomische Unabhängigkeit der östlichen Frauen und die von der westlichen Feministinnen erkämpften Freiräume — ob nun in Frauenzentren oder in Parteien — , sondern der Ausschluß der Frauen aus den Nischen wie aus dem Produktionsprozeß.

Ja gut, aber ich denke, daß die Frauen im Osten ein eigenständiges Wertesystem entfaltet haben, was in Konfliktfällen auch zum Tragen kommt, wieder Beispiel Schwangerschaftsabbruch. Natürlich müssen sie lernen, sich zu artikulieren, aber wenn sie das gelernt haben, wird das Neue, das Andere zum Vorschein kommen. Im Westen wird die Andersartigkeit dieses Austragens aber einfach nicht verstanden, so daß der Eindruck entsteht, die haben nichts zu sagen.

Deutsche Zweisprachigkeit?

Genau die führt mich ja auch dazu, zu sagen, da ist Andersartigkeit.

Ist das DDR-Identität?

Doch, die gibt es. Drei Generationen können diese Prägung nicht einfach verlieren. So wie ich meine Prägung an meinen Sohn und meine Tochter weitergegeben habe. Doch westlicherseits gehört Geduld, Akzeptanz und Fingerspitzengefühl dazu, diese Töne überhaupt hören zu lernen, und die sind beim gegenwärtigen Crash nicht vorhanden.

Sie arbeiten hier in der Humboldt-Universität inmitten eines heillosen Chaos, das durch die „Abwicklungs“-Beschlüsse des Senats verursacht wurde, Ihre Stelle wird zusammen mit allen anderen des Fachbereichs Rechtswissenschaften abgewickelt. Ist die „Abwicklung“ ein Schlachtfeld zwischen Westlern und Ostlern um die Aneignung der Vergangenheit?

Zumindest entstehen ungute Koalitionen. Hier entsteht aufgrund des westlichen Drucks eine Solidarisierung zwischen Rechten und Linken, und im Westen machen die Linken Vorlagen für die Rechten. Der Schrei nach Bewältigung der Vergangenheit bringt die Rechten in die Lage, zu kriegen, was sie haben wollen. Und viele Westler sind, egal wo sie politisch stehen, richtiggehend wahrnehmungsunfähig.

Meinen Sie die Ex-Wissenschaftssenatorin?

(lacht) Ich habe genügend öffentliche Debatten mit ihr geführt, um hier nichts mehr zu sagen.

Wenn man die Vergangenheit nicht kolonialistisch aufrollen und besetzen will, wie könnte das von Ihnen favorisierte Modell der Vergangenheitsbewältigung aussehen?

In unserem Fachbereich haben wir uns dafür entschieden, Personalstrukturkommissionen und Prüfungskommissionen mehrheitlich mit westlichen Hochschullehrern zu besetzen, die wir aus unterschiedlichen Spektren einladen konnten. Gleichzeitig haben die Ostler dennoch über die Vertreter der Studenten und Mitarbeiter eine Mehrheit, und das finde ich richtig. Sicherlich muß man konstatieren, daß bei den Rechtswissenschaften konzeptionell viel falsch gemacht wurde. Aber es kann keine Rechtsanwendung in diesem Lande nur von draußen geben, es muß Kontinuitäten geben. Sie können hier nicht Richter oder Anwälte ausbilden, die die Prägung der Menschen nur von außen betrachten, und auch die Studenten müssen hierbleiben. Und es ist doch paradox, daß gerade in einer hochverrechtlichten Gesellschaft wie der westlichen alle Rechtsnormen von einem Tag auf den anderen geändert werden sollen. Das beinhaltet tiefe Gefahren für den Einigungsprozeß. Im Westen wird alles über das Recht gesteuert, das ist hier nie gemacht worden, selbst im repressiven Bereich nicht, weil die eigentliche Repression weit vor das Recht gelagert war.

Die andere Seite der Abwicklung ist laut Protokoll der Kultusministerkonferenz offenbar die, sich den Rücken freihalten zu wollen von zuviel Stellen, vor dem aufgeblähten Personalapparat.

Also eines stimmt mit Sicherheit nicht: daß die Universitäten hier zu groß sind. Er ist im Gegenteil, was die Ausbildungskapazitäten anbelangt, viel zu klein für die vielfältigen neuen Anforderungen, und das wissen die Macher im Westen auch. Die Rechtswissenschaften hier sind im Vergleich zu drüben geradezu embryonal. Es geht also offenbar darum, daß nun Bereiche abgewickelt werden, die im Westen besonders groß sind. Das legt den Verdacht nahe, daß sie gerade die Bereiche, die die Herrschaftseliten der Bundesrepublik ausbilden, kassieren wollen, Marxismus-Leninismus dürfen wir dann im Zweifel behalten.

Können Sie sich hier westliche Bündnispartner vorstellen? Vor allem angesichts der Sparpläne des Bundesfinanzministers, der ja nun auch die Universitäten in West-Berlin bedroht und die ganze Stadt zu verosten droht. Das wäre doch ein Ansatz für eine neue Bewegung.

Ja, wäre es. Bloß habe ich da die Begegnungen zwischen Ost- und West-Wissenschaftlern vor Augen, und die machen mich noch mißmutiger als die ganzen Verfassungsdebatten. Gut, mir fehlt hier einfach die Objektivität, aber ich glaube, daß hier im Moment viel mehr Konkurrenzen zum Tragen kommen als Solidarität. Ich sehe im westlichen Lager nur Streit zwischen Leuten, die kolonialisieren und drücken wollen, und anderen, die uns verzweifelt fragen: Warum seid ihr nicht schneller? Und das, während hier alles auf dem Kopf steht und in Selbstauflösung begriffen ist.

Also doch wieder Rückbesinnung auf die eigene DDR-Erbschaft?

Was wir brauchen, ist Zeit. Interview: Ute Scheub