„Scheherazade — ein explodierendes Märchen“

■ Die Filmemacherin Helma Sanders-Brahms über die „Frauenaktion Scheherazade“ INTERVIEW

taz: Scheherazade ist die Erzählerin von 1001 Nacht, also eines Märchens, einer Utopie, in der eine arabische Frau große Macht ausübt. Sie haben sich seit neun Jahren mit der Erzählerin von 1001 Nacht beschäftigt. Was ist denn die Geschichte der Scheherazade?

Helma Sanders: Ein Vater hat zwei Söhne, der eine wird Herrscher von Samarkant, des alten Persiens, der andere Herrscher der Inseln zwischen Indien und China. Eines Tages erwischt der jüngere Herrscher seine Frau mit einem Mann. Er schlägt beiden den Kopf ab und reist zu seinem Bruder.

Während der ältere Bruder eine Jagd ausrichtet, setzt sich der jüngere ans Fenster und beobachtet eine Gesellschaft von zehn Frauen und zehn Männern, darunter auch die Königin, die Frau des Älteren. Sie werfen ihre Kleider ab und veranstalten eine grandiose Orgie. Jetzt sind beide Brüder furchtbar erbost und gedemütigt — dieser Gedanke des gedemütigten Mannes spielt eine große Rolle. Sie wollen nicht mehr Könige sein und gehen auf Wanderschaft.

Irgendwann treffen sie auf einen schrecklichen Djinn, aus dessen Kasten ein junges Mädchen entsteigt. Als der Djinn schnarcht, schläft sie mit den beiden und steckt anschließend die Siegelringe der beiden in ein Säckchen. Dort hat sie aber schon 98 Ringe, in anderen Fassungen sind es sogar 570, die sie in ähnlichen Fällen erobert hat. Die beiden merken also, daß der Djinn noch mehr gedemütigt worden ist als sie, sie gehen also wieder nach Hause.

Der eine wird zum Einsiedler, der andere kommt auf den furchtbaren Gedanken, jede Frau, die er sich nimmt, umzubringen. Das geschieht so lange, bis das ganze Land weint und schreit.

Der Diener, der diese Mädchen immer zu diesem Schlächter bringen muß, hat zwei Töchter. Die eine von beiden ist Scheherazade. In der Erzählung heißt es dann: „Die ältere, Charazade, hatte viele Bücher gelesen, Chroniken und Legenden der alten Könige und der untergegangenen Völker.

Man sagte, daß sie tausend Geschichtsbücher besaß und sich auskannte in der Geometrie der Ägypter und der Algebra der Araber... Sie konnte so gut erzählen, daß man nicht aufhören konnte, zuzuhören.“ Scheherazade ist also hochgebildet, und sie sagt zu ihrem Vater den entscheidenden Satz: „Ich will dieser Barbarei ein Ende setzen.“ Der Vater solle sie an den Schlächter verheiraten.

Sie betört den bösen Sultan — das wären in unserem Falle nicht nur Saddam Hussein, sondern alle kriegführenden Männer —, der sie eigentlich umbringen will, mit 1001 Geschichten...

Und diese breiten sich wie bei unserer Aktion wie eine Kettenreaktion aus. Das Märchen von 1001 Nacht existiert in einer Unzahl von arabischen Handschriften, es gibt zwischen 53 und 65 verschiedene Fassungen, in denen nur die ersten drei oder fünf Geschichten identisch sind. In allen Märchen werden immer wieder neue Märchen erzählt, die sich explosionsartig ausbreiten. Das ist wie die Geburt der Welt, die an einem winzigen Punkt beginnt und sich ausbreitet wie die Sterne und Planetensysteme am Nachthimmel.

Und wie geht es weiter?

Scheherazade, das ist auch wieder für heute entscheidend, erzählt dem Schlächter lauter Geschichten von Unschuldigen, die getötet werden. Die erste handelt von einem Kaufmann, der in einer Oase Datteln ißt. Ein schrecklicher Djinn taucht auf und sagt: Du hast mein Kind mit Dattelkernen erschlagen, dafür sollst du sterben. Der Kaufmann sagt: Gib mir noch ein Jahr Aufschub — man spürt geradezu das UNO-Embargo.

In einem Jahr kommt er tatsächlich wieder. In der Wüste tauchen dann drei andere Männer auf, mit einer Gazelle, zwei Hunden und einem Maultier, die sich zu ihm setzen, weil sie Mitleid mit ihm haben.

Der Djinn, auf den sie warten, könnten die Alliierten sein oder auch der Irak. Und als er kommt, bieten sie ihm einen Handel an, den wir jetzt auch anbieten könnten: Wir erzählen dir alle eine Geschichte. Und diese handeln wiederum jedesmal von Unschuldigen, die umgebracht werden sollen. Und damit überzeugen sie den Djinn, daß der Kaufmann nicht umgebracht werden darf. Das sind die ersten zwei Nächte von Scheherazade. So spiegelt sich die Geschichte, gegen die Scheherazade anerzählt, wider in ihren Märchen.

Und schließlich gibt es ein Happy-End, dank Scheherazades Macht. Die orientalische Welt war und ist also keinesfalls so frauenfeindlich, wie sie sich heute für uns darstellt?

Nein. Sie war geradezu frauenzentriert. Das finde ich für unsere Aktion enorm wichtig.

Interview: Ute Scheub