Der leere Platz in seiner Seele

Roland Schäfer inszeniert Horváths „Don Juan kommt aus dem Krieg“  ■ Von Lore Kleinert

Ein Mann glaubt und hofft, der Krieg habe einen „anderen Menschen“ aus ihm gemacht. Mit Stahlhelm und verdrecktem Soldatenmantel betritt Don Juan die Bühne, und sogleich löst die Soubrette eines Fronttheaters die Erinnerung aus, der er nachjagen will: an eine Frau, die er verlor. Weil er sie verlor, sucht er sie und nennt das Liebe. Am Ende kniet der Mann, längst elegant ausstaffiert, im Schnee an ihrem Grab. Er fand die Traumfrau wieder, tot; und er fand, was er suchte — nicht die Liebe —, den Tod.

Dessen Ort bei der Großmutter des toten „Fräuleins“ lernt das Publikum gleich zu Beginn kennen, eine „kleine Stadt“, so Horváth, hier eher ein Dorf. Eine alte Frau sitzt in einem Kämmerchen oben an der Rückwand des Bühnenraums, eine derbe Magd schüttet Milch um. Beide sind mit Lichtkegeln aus dem Dunkel geschnitten, und die alte Frau verweigert dem Manne, der Brief um Brief schreibt, hartnäckig die Nachricht vom Tod der Gesuchten. Daß das Fräulein vor Kummer verrückt wurde und starb, erfährt er erst, wenn er am Schluß vor ihr steht.

Doch dann, wenn die Wahrheit ausgesprochen wird, hat der Spannungsbogen der Inszenierung längst sein Ende erreicht: nicht die Läuterung des Sünders Don Juan treibt die Handlung voran. Wichtig ist bei den Stationen seiner Suche allein die Differenz zwischen dem, was der Mann, der einzige in Horváths düsterem Stück aus 1936, sucht, und was alle Frauen ihm zu bieten haben.

Im Reigen von Hure, Dentistin, Filmstar, Kunstgewerblerin, Revolutionärin und vielen anderen ist jede einzelne magisch angezogen vom Wunsch des Mannes, das wiederzufinden, was es nicht gibt. Genau das will sie sein und den leeren Platz in seiner Seele füllen, und weil das niemals gelingen kann, wird der Mann weitergestoßen wie eine Billardkugel. Nicht er verändert sich und auch keine der Frauen, nur der Lauf der Dinge, mal rasch, mal zeitlupenhaft langsam, aber berechenbar, wenn man das Spiel beherrscht. Mit Faszination erwarten wir die nächste Berührung, wohl wissend, daß auch sie nur andere, ebenso flüchtige Muster hervorrufen wird.

Roland Schäfer, der den Don Juan selbst spielt, inszeniert dieses Spiel vom Mann und den vielen Frauen in raffinierter Überblendung aller Schauplätze und Zustände. Das Boudoir wird zur Balkonloge, aus dem Zimmer bei der Professorenwitwe wechseln wir ins Atelier der lesbischen Kunstgewerblerinnen; Großstadtcafé, Straße und Wald scheinen ineinanderzufließen, kunstvoll akzentuiert von der Musik der Geigen und des Cellos und der Geräusche, die mitunter zum Stöhnen werden. Eine ebenso einfallsreiche und vielseitige Lichtregie zieht immer das aus dem Dunkel, was wir sehen sollen.

Spiegel sind das immer wieder, denn das Abbild ist um so mächtiger, wenn die Wirklichkeit des Abgebildeten undeutlich wird. Don Juan spielt mit einer Stimmgabel, und der Ton, auf den er lauscht, wird wirklicher als die gespielten Gefühle um ihn herum. Ein großer Vorhang verändert Raumaufteilung und Proportionen — mal wirft er blutrote Schatten auf die weiße Haut; von grellem Licht bestrahlt, bildet er das Schattenspiel der manchmal hinter ihm Agierenden ab wie ein altmodischer Scherenschnitt. Ein kleinerer Vorhang wird zur Filmleinwand, zunächst als ironische Brechung, bis das Theaterspiel selbst zum Film wird, und in diesem Film wiederum betrachten die dort zwangsweise vereinten Frauen einen weiteren Film, den vom Mann Don Juan in der Opernloge. Ein Kunstgriff, der etwas zu lang und überdeutlich das Zentrum des Stückes kennzeichnet: Das Bild wird mächtiger als die Wirklichkeit, es ist die Wirklichkeit.

Regisseur Schäfer schöpft die Möglichkeiten des kleinen Bremer Schauspiels so aus, wie das hier kaum mehr möglich schien, und deshalb ist das gelegentliche Übermaß auszuhalten; und weil er Horváths Stück (fast) aller Erlösermystik entkleidet zugunsten eines kalten Blicks auf inszenierte Emotionen und bewußtlose Aktionen, folgt man dem Weg des Mannes mit gleichbleibender Faszination, die mit „teilnehmender Beobachtung“ oder gar „Betroffenheit“ nichts zu tun hat.

Keine der Frauen ist Opfer des Mannes. Sie alle betrügen ihn mit dem Bild, das sie für ihn sein wollen. Dieses Spiel, dessen Varianten der Nach-Weltkriegszeit der zwanziger Jahre Ödön von Horváth vorführt, ist, das spüren wir, keineswegs gealtert. Am bittersten vielleicht erkennen wir es an der Begegnung des Mannes mit dem jungen Mädchen: Weil sie es noch nicht erträgt, Sehnsuchtsbild zu sein, erfindet sie die Verführung. Diese Lüge beschleunigt Don Juans Ende, nicht weil wirklich etwas geschah, sondern, und das ist die Achse der Inszenierung, weil nichts wirklich geschieht zwischen den Menschen.

Das Finale auf dem Friedhof allerdings entzieht sich dieser kalten Logik, die präzise ins Bild setzte, wie Leben funktioniert, wenn die Bilder alle Macht haben. Diese Inkonsequenz läßt bestenfalls den Schluß zu, daß Sentimentalität die Kehrseite der Fühllosigkeit ist.

Bis dahin balanciert Schäfer seinen Don Juan virtuos zwischen tiefem Gelangweiltsein, gelegentlichem Aufscheinen von Bewegung und seiner Gefangenschaft in den eigenen Bildern, die er aufladen muß, um sie nicht verblassen zu lassen. Ihre größte Intensität erreicht die Inszenierung folgerichtig vor dem Ende im Schnee: Mann und Frau begegnen sich vor einer phosphoreszierenden Wand, deren Oberfläche die Schatten, die sie werfen, noch für einige Minuten festhält (siehe Anleihe aus André Hellers Luna-Luna-Zirkus).

Die Schatten suchen sich und fliehen voreinander, auch dann, wenn die Menschen längst fort sind — magischer Moment einer Inszenierung, die bilderreich davon erzählt, daß Bilder die Zeit nicht anhalten, aber konservieren, und daß Untote nicht sterben können. Daran gemessen, schrumpft der Don Juan, der am Ende die Angst des Schneemanns vorm Schmelzen beschwört, auf das Maß des Schlagers von den neuen Männern, die das Land angeblich dringend brauche.

Ödön von Horváth: Don Juan kommt aus dem Krieg. Regie: Roland Schäfer. Bühne: Florian Parbs. Komposition: Michael Jan Haase. Bremer Theater. Nächste Aufführungen: 2./4./5.12. und 13./14.12. sowie am 22./23.12.