Alles Theater

Auf dem diesjährigen Film-„Festival of Festivals“ in Toronto gab es das Neueste von Jane Campion, Jon Amiel, Tom Stoppard, Barbet Schroeder und Patrice Leconte zu sehen  ■ Von Marcia Pally

Zwei Komödien spielten sich gerade ab, als ich nach Toronto kam: die Premiere des Filmfestivals und die Landeswahlen. Die Neue Demokratische Partei (NDP), eine Partei der Sozialisten, hat zum erstenmal in der Geschichte Ontarios gewonnen; zum viertenmal in der Geschichte Kanadas haben die Liberalen und die Konservativen verloren. Ich hörte die Nachricht im Radio auf dem Weg zur Premierenparty. Dort angekommen, versicherten mir aber meine Freunde aus Toronto — vor allem die, die NDP gewählt hatten — ich müsse mich verhört haben.

Der Hauptgrund für den NDP- Sieg scheint Torontos Antrag gewesen zu sein, 1996 Austragungsort für die Olympischen Spiele zu werden: Wenn die Ontarier glauben, etwas sei ihnen von Nutzen, dann tun sie es. Atlanta, Georgia, zum Beispiel hat — ebenfalls wegen des Wettbewerbs um die Olympiade — 7 Millionen Dollar investiert, um sich „als Symbol der Rassentoleranz und des ökonomischen Fortschritts im neuen Süden“ präsentieren zu können.

Ein anderes wichtiges Wahlthema waren die Körperschaftssteuern. Zur Zeit gibt es in Ontario keine Mindeststeuer für Unternehmen, außerdem gehört ein Großteil der einheimischen Industrie US-Tochtergesellschaften. Die können den Gewinn in die USA abführen und in Kanada beträchtliche Verluste abschreiben. Privatpersonen dagegen müssen bei einem Jahreseinkommen von 80.000 Dollar 50 Prozent Steuern bezahlen. Die NDP schlägt eine Unternehmenssteuer von mindestens 8 Prozent vor, was natürlich eine Firmenflucht in die benachbarten Länder zur Folge haben wird: Eifrige Reporter recherchieren bereits in Sachen Wahlkampffinanzierung aus Quebec.

Die beste Wahlanekdote stammt aus dem Distrikt von St. George-St. David, einer Region, die das Obdachlosenheim, das Schwulenghetto und eine Yuppiegegend mit einschließt. Der Wettkampf fand statt zwischen dem amtierenden Kandidaten der Liberalen (den die Yuppies vorzogen) und einer 32jährigen schwarzen Fürsorge-Mutter für die NDP (für die die Obdachlosen votierten). Der Kandidat der Konservativen wiederum stand auf verlorenem Posten, in seiner Verzweiflung inszenierte er schließlich sein Caoming out. Es war wie im Kino und besser als der Eröffnungsfilm, Völlig normal.

Der Kanadier Yves Simoneau erzählt darin von einem jungen Fabrikarbeiter (Michael Riley), der nachts als Taxifahrer jobt. Einmal fährt er einen lebenslustigen Herrn, der noch dazu weiß, wie man Geld macht. Der Eindringling (gespielt von dem rasanten Briten Robby Coltrane) verwandelt das unauffällige Leben unseres braven Arbeiters in eine handfeste Oper — und wie „Fidelio“ endet das Ganze mit einem Chor, einer Hymne auf den Menschen.

Völlig normal hat den gleichen Fehler wie das kanadische Mainstream-Kino überhaupt: Es ist einfach zu nett. Auf dem diesjährigen Festival kam die Avantgarde nicht mehr vor. Dabei gibt es sie durchaus, mit Filmen wie etwa dem wunderbar groben A Winter Tan (Berlinale 1988) von Jacie Bourroughs, John walker u.a., der auf den Drogen- und sexuellen Erfahrungen der New Yorker Schriftstellerin Maryse Holder basiert, oder mit den formalen Experimenten eines Atom Egoyan in Family Viewing (ebenfalls Berlinale 1988). Diese besonderen kanadischen Stimmen existieren zwar, aber sie waren diesmal kaum zu hören.

Zum Glück hat der kanadische Mainstream auf das internationale Programm im Toronto noch nicht abgefärbt. Obwohl fast 300 Filme zu sehen waren, gab es wenig Blindgänger: Toronto hat die höchste Trefferquote aller Filmfestivals, die ich je besucht habe. Das ist nicht nur den Programmachern zu verdanken, sondern vor allem der Tatsache, daß sie alljährlich die Creme aller bisherigen Festivals der Saison abschöpfen. Daher auch der Name der Filmfestspiele: Festival of Festivals. Immerhin ging der diesjährige r Toronto-Preis (incl. 25.000 Dollar in bar) nicht an eine der Harmlosigkeiten, sondern an H. Darrell Wasyks kompromißlosen Blick auf ein drogensüchtiges Pärchen ging, die sich in einer Souterrain-Wohnung eingebunkert haben und mit ihrem Leben nicht zurechtkommen. Auch The Company of Strangers der Kanadierin Cynthia Scott fiel aus dem Rahmen. Ein Gruppe pingeliger alter Damen muß wegen einer Buspanne unerwartet in einer verlassenen Farm übernachten. Die Damen sind zwar auch sehr nett, aber dennoch verdammt komisch und äußerst gewieft — im Zweifeslfall würden sie eher über Sex reden als über ihre Enkelkinder. Am besten hat mir gefallen, wie sie Fische in der Strumpfhose fangen. Ein Tip, den ich in der überarbeiteten Auflage des Bestsellers „Sex Tips for Girls“ wiederzufinden hoffe.

Mag sein, daß Völlig Normal ein Fest für die Phantasie sein wollte, aber mehr als Gefälligkeiten bietet der Film nicht. Da ist mir Jane Campions An angel at my table lieber, ein Film, der auf der Autobiographie der neuseeländischen Dichterin Janet Frame (wundervoll gespielt von Kerry Fox) basiert, die ihre Schüchternheit mit Büchern besänftigte und ihre Angst vor der Welt mit Schreiben bewältigte. Ende der vierziger Jahre mußte Frame über 200 Elektorschock-Behandlungen über sich ergehen lassen, weil die Ärzte ihre besondere geistige Verfassung für Schizophrenie hielten. Acht Jahre lang schrieb sie in der Psychiatrie und wurde eine international anerkannte Schriftstellerin und Lyrikerin.

Wie Frame sehnt sich auch Campion danach, den Gefühlen unter die Haut zu gehen — der ländlichen Armut, dem Leiden unter häßlichen Kleidern und kaputten Zähnen, der Taubheit, die daher rührt, daß sie nie nackt war, nie berührt wurde, der Erniedrigung durch das Gelächter der anderen und die leidenschaftliche Anerkennung, die man dort findet, wohin Bücher einen entführen. Campions letzter Film Sweetie, eine erfundene Geschichte über Psychosen und familiäre Bindungen, war ein Meisterwerk des Indirekten. Passend zu der wirren Story wurde selbst die Kamera verrückt, die Körper und Räume halbierte oder schräg stellte. In Angel betrachtet Campion die hermetische Welt ihrer Heldin wie unterm Mikroskop; sie erzählt Frames hartes Schicksal in eben dem sanften, lyrischen Ton, den sie bei Sweetie radikal vermieden hatte. Eine Arbeit voller Liebe und Verständnis und dennoch ohne Sentimentalität. In Venedig gewann Campion den Spezialpreis der Jury, in Toronto den Kritikerpreis.

Kunst und Phantasie wurden diesmal in etlichen Filmen gefeiert, Jesse Helms, der US-Senator, der gegen die staatliche Kunstförderung zu Felde zieht, sollte sie sich ansehen: er wäre entsetzt. Zum Beispiel über Tune in Tomorrow von Jon Amiel, nach Mario Vargas Llosas Tante Julia und der Kunstschreiber. Amiel interessiert sich dafür, wie man das Leben in Geschichten verwandelt, die uns das Leben meistern helfen. Seine beiden letzten Filme, The singing Detective und Queen of hearts (Liebe, Rache, Cappuccino, ab 18.10. in den deutschen Kinos)) handeln von der Erinnerung eines alten Mannes an seine Jugend, und von den Mythen, die aus der Erinnerung entstehen. In seinem neuen Film mischt er Fiktion und Phantasie, indem er die Geschichte eines heruntergekommenen Seifen-Opern-Librettisten erzählt. Mit Hilfe von dessen Geschichten verhinderte Liebespaare zusammengebracht werden sollen. Vielleicht ist es auch umgekehrt: Die Liebhaber nehmen die Seifenoper zum Vorwand, um einander zu finden (mit Peter Falk, Barbara Hershey und Keanu Reeves).

Auch Rosencrantz und Guildenstern are dead, Tom Stoppards Regie-Debüt und der diesjährige Gewinner des Goldenen Löwen in Venedig, ist Kunst im Kino. Deutlicher wird über die Künstlichkeit von Kunst nur noch in dem Theaterstück gesprochen, das dem Film zugrunde liegt. Rosencrantz und Guildenstern erzählt die Geschichte des dänischen Prinzen Hamlet aus der Sicht seiner beiden Begleiter; eine Hommage an das Phantastische allen Theaters, erstellt mit Hilfe von Shakespeares Original.

Folgt Teil 2, noch circa 150 Zeilen

Durch die Intimität der Kamera nähert sich der Film den Mechanismen der Schaustellerei, hält auf die Theaterschminke und die Falltüren und führt so das Gemachte und Raffinierte vor Augen — die Kluft zwischen Kunst und Leben, die Auslassungen und Übertreibungen, die wir brauchen, um aus unserm Leben eine Kunst zu machen und unsere Gefühle in Szene zu setzen.

Gary Oldman (Prick up your ears) und Tim Roth (in Altmans Vincent und Theo spielt er van Gogh) geben ein flinkes, plattfüßiges Pärchen Rosenkranz und Güldenstern — oder Güldenstern und Rosenkranz: keiner von beiden kann sich je merken, wer er ist. Dabei sind es ja nur Rollen — ein typischer Stoppard-Witz. Richard Dreyfuss, der immer so gern den verschmitzten Weisen spielt, war nie so verschmitzt und so weise wie hier als Chef der Schaustellertruppe, die Hamlet eingeladen hat. Ständig taucht er auf und verwirrt die beiden, indem er sie fragt, ob das Stück, dem sie beiwohnen, denn nun Kunst sei oder das Leben. Seine Spöttereien sind eine Lehrstunde in Sachen Theater, eine Fabel über Verspieltheit in einem Spiel über Spielregeln.

Auch in Die Affaire der Sunny v.B., Barbet Schroeders neuem Film über den Claus von Bülow-Prozeß, wird Theater gespielt: Szenen im Gerichtssaal und Szenen einer Ehe oder Wie führt sich die High Society auf? Der Film basiert auf dem Buch des Verteidigers Alan Dershowitz (gespielt von Ron Silver), sein Fazit: Niemand weiß die Wahrheit über den Tod. Hat Claus nun seine reiche Gattin Sunny mit einer Überdosis Insulin ermordet oder hat sie Selbstmord begangen oder wußte er, daß sie sich umbringen wollte und ließ sie sterben? Es geht nur darum, wer die besten Vermutungen anstellt und wem es gelingt, vor dem Publikum im Gerichtssaal und im Theater der öffentlichen Meinung die beste Figur zu machen.

Dershowitz ist ein in den USA prominenter Verteidiger der freien Rede, immer mit dem Argument, daß niemand im Besitz der Wahrheit sein kann. Dummerweise werden einem die rechtlichen und philosophischen Implikationen des Bülow- Falls im Film aber mit peinlich naiven Dialogen eingetrichtert — dem Massenpublikum zuliebe. Selbst Ron Silvers Kraftanstrengungen können über die unbeholfene Didaktik nicht hinwegtäuschen.

Soll Dershowitz sich der Kunst der Überredung widmen; das Massenpublikum kann derweil das Theater des Luxus genießen: Aufwendige New Port-Häuser, edle Armani-Anzüge — Kleider machen Leute. Von Bülow wird von Jeremy Irons gespielt, die perfekte Rolle für ihn. Und Glenn Close gibt die traurige, verbitterte Sunny mit all dem billigen Pathos und Stolz einer ungeliebten Erbin. So verschwenderisch sie auch leben, kein Zuschauer möchte mit ihnen tauschen und ihr entfremdetes Leben leben — womit Sunny die befriedigendste Form der Phantasie gefunden haben dürfte. Man denkt sich in all den Luxus hinein und ist froh, daß man ihn nicht hat, fühlt sich der kaputten Existenz der von Bülows, ihrem leben mit Alkohol und Drogen haushoch überlegen. Endlich müssen wir Amerikaner uns nicht mehr ärgern, daß wir nie ein Königshaus hatten.

Weitere Big-Budget-Filme auf dem Festival of Festivals: Peter Medaks The Krays und Stephen Frears' The Grifters. Sie gehören zur Gangster-Film-Serie in diesem Herbst, wie auch Abel Ferraras King of New York, Millers Crossing von den Coen-Brüdern, die auf dem New Yorker Filmfestival Premiere hatten, das letzte Woche eröffnet wurde. Auch Scorseses Good Fellas, der in Venedig den Regiepreis gewann, zählt dazu.

Bleibt Der Mann der Friseuse, der neue Film von Patrice Leconte. Wie schon in Monsieur Hire geht es auch diesmal um einen Mann, der am Rande steht und dem Leben bloß zuschaut, und wieder ist es eine Frau, die er beobachtet, die ihn dann doch hineinzieht. Auch diesmal wird all das Wissen um Sehnsucht und Verlust mit den sparsamsten Mitteln in Szene gesetzt — wie das schnelle Zugeständnis einer Frau, die kurz ihren Schleier hebt. Der Mann der Friseuse ist offenbar eine erotische Erinnerung an die Faszination, die der Friseursalon auf ihn ausübte, als er Knabe war — der Duft der Shampoos und Pomaden, der Geruch der Friseuse und der verstohlene Blick auf ihre Brüste. Die Geschichte ist ganz einfach: Der Mann findet den Salon wieder und heiratet die Friseuse. Und ihr stiller Sex enthüllt sich beim Blick in die Spiegel über dem Friseurstuhl. Am Ende wird ihnen die Angst vor dem Verlust zum Verhängnis. Jean Rochefort in seiner Rolle als nicht mehr ganz so junger Franzose, den nach und nach die Leidenschaft packt, ist bemerkenswert scheu und resolut zugleich. Ana Galiena erinnert an Claudia Cardinale mit ihren lächelnden Augen, die dem Leben Würde verleihen.

Aber nicht nur über die Kunst, auch über das Leben habe ich in Toronto etwas gelernt. Die wichtigsten Ratschläge kamen diesmal von der Warhol-Schauspielerin Ultra Violet (in Chuck Workmans Warhol-Dokumentation Superstar): Wie man sich mit Hilfe von Roter Beete natürliches Rouge auf die Wangen zaubert, von dem Regisseur John Walker (A Winter Tan): Wie man sich sogar als Intellektueller die Haare blondieren kann (nicht naßmachen, nur die Bleiche draufschmieren, eine Filmkritik schreiben und wieder abwaschen; mehrmals jährlich wiederholen) und von einem Taxifahrer. Er verriet mir, wie man dafür sorgt, daß das männliche Geschlecht nicht in Wallung gerät. Ich weiß nicht mehr, wie wir auf das Thema kamen, aber ich war sehr geschmeichelt, daß er glaubte, ich hätte den Tip nötig. So brauchte ihr mir während des Festivals nie Feuer geben zu lassen.