CAF SATZ

■ 10. Ein Schamane in Paris

In einem Café jemand Fremdes ansprechen und sie oder ihn ganz persönliche Dinge fragen. Die Einstiegsfrage: Warum sitzen Sie hier? Heute die letzte Folge der Cafésatz-Serie.

Es ist eins der Cafés, die zur Wohnung gehören: Morgens wird hier vor der Arbeit ein erstes Glas im Stehen genommen. Mittags essen die Friseusen am Tisch kalten Braten mit Remoulade. Draußen auf dem Asphaltbürgersteig drängeln sich neun rote Plastikstühle um drei rote Plastiktische. Nebenan der Metzger hat seinen Grill rausgerollt. Die Hähnchen drehen sich hinter verspritztem Plexi und duften herüber. Der Mann am Tisch neben mir — Mitte 30, Stoppelbart, Jackett und Mineralwasser — sieht deutsch aus und nach Vernissage. Aber Touristen haben in dieser Ecke von Paris nichts zu suchen.

Er lebt seit zweieinhalb Jahren in der Stadt und malt. Warum in Paris? „Zufall“ sagt er, wie im weiteren fast immer, wenn's um Entscheidungen geht. Nach Leben in New York und Nepal hat er an der Seine ein Video geschnitten und sich verliebt. „Zufall“ ist sein Leben: Geboren in Österreich. Der Vater verläßt die Mutter und das kleine Kind. Das wechselt die Orte und die Eltern, mal ist es die Schweiz, mal die Tante. Mal München und dann viel Internat. Das Kloster lag nahe, Missionar will er werden. Der Stiefvater zieht einen Schulwechsel vor. Mit 16 verläßt Wolfgang die damaligen Eltern. In Jugoslawien malt er orangene Bläschen auf Steine am Strand und „beschließt“ — ausnahmsweise benutzt er dieses Wort — Malerei zu studieren. Tut das, aber filmt dann lieber. 12 Jahre lang in Super 8 und Spielfilmlänge. Für den nächsten Filmschritt will er richtiges Geld. Schreibt drei Jahre lang Szenarios. Und kriegt doch nix. Dabei mag er laufende Bilder lieber als gemalte, denn Film sei „immateriell“, nur eine Rolle Unsichtbares, schnell und momentan, nicht Spekulation wie die Bilder in Öl. Aber Film sei auch „Ausbeutung“, der Zulieferer und des Lebens, Arbeit in einer Hierarchie. Mit diesem Trost kehrt Wolfgang zu Pinsel und Tube zurück und bleibt in Paris. Er habe früher nie ein eigenes Zimmer, nie ein eigenes Land gehabt. Deshalb sei es eigentlich egal, wo er lebe.

Soweit der Klappentext. Und worum ging es im Video? „Aktiven Schamanismus“ — das klingt nach Sport im Verein — in einem nepalesischen Dorf, wo von 500 Leuten 30 außer Bauern auch eben noch Schamanen seien und als solche gebraucht würden, nicht nur, um Feuer zu essen. Er ist begeistert. Warum ist er nicht dort geblieben? Weil er dort nicht herkommt, und weil es dort auch nicht mehr ist, wie es früher mal war. Der Kapitalismus habe längst gegriffen, alle möchten Armbanduhren und weg.

Also ist es „eigentlich“ doch nicht egal, wo er lebt. Was also mag das heimatlose Kind an Paris außer der Freundin? Man Ray habe es schon gesagt: New York sei sauer, Paris sei süß. Und süß das seien Feigen, Küsse, gut schmecken und Kinder zum Beispiel. New York sei brutaler, Paris sozialer. Zum Beispiel die „Carte Orange“, ein Billigticket für den Nahverkehr. Und er liebe die fast tierische Naivität der Franzosen. Ob es nichts Schlimmes gibt in dieser Stadt? Ja, ja, aber das gehöre dazu. Also genauer: Was ist ihm zuletzt Schlimmes passiert? Ein Autofahrer ist knapp an ihm und seiner Freundin vorbeigefahren. Fast über die Zehen, — mir fällt ein, daß Schamanen über Glut laufen können — und er, Wolfgang, hat mit der Hand hinten auf den Kofferraum gehauen. Das Auto stoppt. Der baumlange Fahrer steigt aus und will wahlweise ihn oder die Freundin verhauen. Wolfgang verhält sich nicht, stellt sich tot „wie ein Tier“. Ein Passant, ein Araber — und das sei doch nun auch wieder schön — greift ein, und es geht ohne Prügel ab. Hätte der Fahrer die Freundin geschlagen, dann hätte Wolfgang schon reagiert. Vielleicht einen Schuh ausgezogen und damit gehauen.

Hat er selbst Fehler? Ich lasse ihm Zeit und schaue den Beinen einer Frau hinterher, die an uns vorbeigeht. Sie sind voller Wasser und in Pantoffeln. Ihm fällt nichts ein, nicht das kleinste Fehlerchen. Und seine guten Seiten? Da kommt dann was: Mut, sich lächerlich zu machen. Zum Beispiel als Künstler zu leben, auch wenn der Profit noch auf sich warten lasse. Auch in der Liebe null Fehler. Seit zweieinhalb Jahren eben, bei beiden. Kinder möchten sie gerne, wenn erstmal der Rubel entsprechend rollt. Sein Aufgehen in der Malerei gibt allerdings gelegentlich Anlaß zu Kummer. Neulich wollten die beiden den neuen Film Pedro Almodovars gucken: „Attache moi“ — „Fessele mich“. Vorm Kino verweigert er, denn sein Kopf ist voll vom Tag im Atelier. Und das ausgerechnet bei einem spanischen Film: Die Freundin ist Spanierin. So droht sie, nie wieder mit ihm ins Kino zu wollen. Er hat ihr verziehen — Ying-Yang als Plisch und Plum.

Sein erstes Bild in dieser Stadt hatte den Titel: „Silberne Bläschen bedrohen Paris“ — das Rebirthing des Malbeschlusses auf den Steinen. Sein Stil? Gegenständlich, aber nicht fotorealistisch, eher expressionistisch. Es sei langweilig, Kleider zu malen — lieber nackte Menschen, die sich auf einander beziehen, träumen. Momentane Sensationen liefern das Motiv, in der U-Bahn oder auf Fotos. Soeben kam auf diese Weise ein Bild gegen Apartheid zustande: Ein Weißer hockt auf einem Schwarzen, statt — wie auf dem anregenden Foto — dem anderen gegenüber. Ein dürrer, überlanger Mann steht daneben — das sei der Beobachter, er selbst. Er ist sich der politischen Ohnmacht des Künstlers, der Künstler sein will, bewußt. So direkt dürfe es deshalb nicht sein. Die drei müßten auch wie Gaukler wirken.

Und sonst Politik? Er stehe — auch wenn man das bei der momentanen Entwicklung im Osten sich kaum noch zu sagen traue — auf Seiten der Ausgebeuteten, und Marx sei für ihn noch lange kein Trottel. Revolution also? Ja klar — schon Joghurt machen sei revolutionär: Es wächst was, dreht und ändert sich was. Bilder malen sei Revolution, jedes Tun, jede Anstrengung sei Revolution. Er müsse ja morgens nicht ins Atelier gehen.

Einer Organisation, die palästinensischen Kindern Ferien ohne Krieg in Frankreich finanziert, hat er vor kurzem Illustrationen gemacht. Dann kommen die Kinder. Er will zum Flughafen. Die Metrokartenverkäuferin will seine „Carte Orange“ nicht auf einen Teil der Strecke anrechnen. Er will nicht zuviel bezahlen, fährt schwarz, wird erwischt, kommt zu spät. Aber auch gerade im richtigen Moment, als die Kinder aus der Abfertigung in den zu ihrem Empfang geschmückten Saal strömen. Tränen treten ihm in die Augen. „Ich hätte mich gehen lassen können, vielleicht, weil ich auch kein Land habe.“ Aber er holt die Tränen zurück, will nicht schluchzen. Vielleicht wär's ja nur sentimental gewesen.

Wütende Traurigkeit kam früher auch an manchen Nachmittagen über ihn, einfach so. Er greift in den Hemdausschnitt und holt eine bläuliche Scheibe heraus. Weil es anders aussieht, betont er: „Kein Plastik, sondern Cellulose.“ Darin eingeschlossen seien die Metalle der sieben Planeten. Dank dieses „Kosmoton“ sind die traurigen Nachmittagsphasen passé. Nur nachts legt er den Halsschmuck meist ab. Weil die Wirkung dann zu stark sei, die Träume zu wild. Vielleicht würde er nur immer drauf liegen und deshalb schlecht schlafen, merke ich ungläubig an.

Seine Augen strahlen durch die Brille mit leuchtender Kraft, die von ganz weit hinten kommt und erst weit hinter mir erlischt, schon die ganze Zeit. „Wir sind alle Götter.“ hat er gesagt. Ich bin nur der Bote.

10.EINSCHAMANEINPARIS