CAFESATZ

■ 5. Sonderschule für Herrn Busch

VON CHRISTOPH BUSCH

In einem Cafe jemand Fremdes ansprechen und sie oder ihn ganz persönliche Dinge fragen. Die Einstiegsfrage: Warum sitzen Sie hier? Die nächste Episode der Cafesatz-Serie erscheint voraussichtlich am kommenden Samstag.

Lesend und markierend sitze ich in dem Cafe, das durch häßlich gerahmte Zeitungsseiten und flimmernde Sat1-Tanten bei einfältigen Kunden den Eindruck erweckt, daß dort „die Presseleute“ säßen. Eine Frau kommt zielstrebig zu meinem Tisch in der hintersten Ecke. Sie hat ihre kugelige Figur in einen labbrigen Mantel gewickelt. Entgangene mittelständische Bioernährung und fehlende tierversuchsfreie Kosmetikpflege sind ihr ins runde Gesicht geschrieben, das von glatt anliegendem Haar gerahmt wird. Im Mund fehlen Schneidezähne. Durch dicke Brillengläser schaut sie mich offen an und bittet selbstbewußt um eine „Spende“. Wieso, weshalb, warum, weiß ich nicht mehr zu sagen. Von einem Kind und keiner Arbeit war wohl die Rede und ganz sicher von „einer Mark“. Aber wichtiger als die Worte ist ihre kleine, rechte Hand. Die hält sie mir mit ausgestrecktem Arm unter die Nase. Sie durchstößt den Panzer. Wie ich geben auch andere, die Hälfte der Gäste vielleicht. Ausgewiesen durch die, die schon gegeben haben, schiebt sie manchmal ohne Worte ihre Hand zwischen den rund um einen Tisch Sitzenden hindurch in deren Mitte.

Eine Stunde später: Das Tageslicht schwindet, das elektrische wird unter Lesestärke gedreht. Ich wechsele in das als Parfümerie getarnte, teure Traditionscafe. Allein am Marmortisch mit Torte dort: die Sammlerin. Sieht aus, als erkenne sie mich nicht wieder. Ich darf Platz nehmen und sage mein Sprüchlein: Geschichte schreiben - Fremde im Cafe ansprechen. Anders als die Angesprochenen sonst will sie gleich und nicht erst in der Mitte des Gesprächs Genaueres über die Zeitung wissen. Auch meiner Standardfrage, warum sie dort säße, begegnet sie abweichend. Höre ich sonst in der Regel Hintergründiges, sagt sie, was ich sehe: „Um zu essen.“ Da ergibt sich nur eine mögliche Anschlußfrage: „Hat's geschmeckt?“ Es hat. Auch anderweitig läßt sie mich nicht näher ran als einen Fragebogen: Münster sei eine angenehme Stadt. Sie sei '50 geboren, habe bald Geburtstag und komme aus Wanne. Dort habe sie durch Putzen in einer Kneipe etwas Geld verdient. Die Kneipe sei nun für immer geschlossen und sie müsse sammeln. Bis Montag noch. Dann bekäme sie Sozialhilfe. Für sich und das achtjährige Töchterchen, das in Wanne auf sie warte. Gelernt habe sie nichts, denn sie sei zur Sonderschule gegangen. Warum keine andere Schule? Weil sie erst mit fünfzehn gelernt habe, sich die Schuhe zu binden, und mit zwanzig, die Uhr zu lesen, mit neun sei ihr Vater gestorben. Einen Freund habe sie nicht. Auch keine Freundin, aber eine „Bekannte“.

Wieviel das Sammeln in der Stunde bringe, möcht‘ ich wissen. Viele gäben nichts, zieht sie sich auf die andere Hälfte zurück. Um ihr eine Antwort leicht zu machen, tippe ich trotz höherer interner Schätzung auf 20 Märker. Auch diese Vorgabe veranlaßt sie nicht zur Preisgabe von Zahlen. Aber sie wehrt auch nicht empört ab. Allerdings müsse sie bald gehen, wolle noch was sammeln und nicht so spät nach Hause fahren. Sie wickelt sich in ihren Mantel und verabschiedet sich.

Ich mache mir Notizen zu unserem Gespräch und möchte dann meinen Tee bezahlen. „Zusammen?“ fragt mich die dünne, schwarz- und langgehaarte Kellnerin. „Nein“, sag‘ ich. Ohne Empörung und mit einer entsprechenden Handbewegung über die Schulter schreibt sie „zehn Mark“ in den Wind. Die Sammlerin hat sich einen kleinen Nebenverdienst verschafft, mein Bleiben am Tisch für den Eindruck genutzt: Gezahlt wird noch. Ich bin verdutzt. Aber es geschieht mir recht. Habe ich doch meine Regel verletzt, niemanden nur wegen äußerlicher Exotik anzusprechen: Ein Sonderschulkurs für Herrn Busch. Ich biete an, die Hälfte der Torte zu tragen, damit die Frau im weißen Schürzchen nicht in die eigene Tasche greifen muß. Sie lehnt meine Kursgebüren dankend ab: Das bekomme sie schon hin, „und wenn Sie die Dame noch einmal treffen, bestellen Sie ihr einen schönen Gruß von mir“. Sie sagt das nicht bissig, nur professionell ironisch und leicht sächselnd. 5. SONDERSCHULE FÜR HERRN BUSCH