CAFESATZ

■ Die schreibende Krankenschwester

VON CHRISTOPH BUSCH

In einem Cafe jemand Fremdes ansprechen und sie oder ihn ganz persönliche Dinge fragen. Die Einstiegsfrage: Warum sitzen Sie hier? Die nächste Episode aus der Cafesatz-Serie erscheint am Samstag: Sonderschule für Herrn Busch.

Das Cafe mit den vielen Zeitschriften trägt den Namen eines 20er-Jahre-Verlags. Sie - dunkelbrauner, grob gerippter Pullover, lange Haare in der selben Farbe, (24) - liest den 'Spiegel‘. Warum sie hier sitzt?

Weil sie viel zu tun habe, aber eigentlich auch wieder nicht. Eher mit sich. Denn sie sei in einer Umbruchsituation: Januar diesen Jahres ist sie mit Sack und Pack von Österreich nach Münster zu Freund und neuem Beruf gezogen. Das Buchbinde-Praktikum ist klar, aber noch nicht angefangen und ein finanziell flankierender Job noch nicht gefunden. So bleibt ihr viel Zeit zwischen Amtsgängen und Jobsuche und bleibt ihr doch nicht: Sie habe Angst, die Zeit renne weg, denn sie wolle alles gleichzeitig, -gewichtig und -richtig machen, die Partnerschaft und den künftigen Beruf.

Warum Buchbinderin? Weil sie gern schreibe, seit dem Jahr '74 schon. Damals mehr über Probleme im Elternhaus, dann auch über Liebe, Umwelt und die Schwierigkeit, Frau zu sein, trotz Tutti frutti und so weiter. Sie denkt beim Schreiben an künftige LeserInnen und mögliche Titel: Leben, Gestern-Heute-Morgen, Ich oder Meine Ichs. Schon jetzt lesen ihr Freund und andere Vertraute mit. Ob sie nicht Angst habe, deretwegen zu lügen? „Nein, belügen kann i‘ nur mi‘.“

Ihr Buch, in dem sie schreibt, hat sie nicht dabei. Ob sie etwas daraus erzählen könne, eine Geschichte vielleicht? Nein. Denn sie könne nicht reden, wie sie schreibe. Aber nach einigem Bitten versucht sie es doch:

Sie wohnt in einem Haus mit Blick auf einen Park und ist nicht gut drauf, geht spazieren und endet auf einer Bank. Vor ihr in Dämmerung und Neonlicht - ein Brunnen mit einer sitzenden Nackten in Stein. Was mag sie für eine gewesen sein, Prostituierte, Mutter oder Muse? Und während grundsätzliche Traurigkeit die Fantasie beflügelt, kommt eine alte Frau heran, die schwer an vollen Einkaufstaschen trägt. Die Sinnende hilft. Doch die alte Frau begnügt sich nicht mit Erleichterung wie üblich, sondern will wissen, warum sie da gesessen, die junge Frau in der Dämmerung. „Ich denk halt so über das ganze Leben nach.“ „Und sind Sie auf einen grünen Zweig gekommen?“ „Naa“. Und schon wird der Traurigen leicht ums Herz. Es ist ein „Moment der Ewigkeit“.

Und was sie in Österreich gelernt, gemacht habe bis zum Dezember? Krankenschwester, zweieinhalb Jahre auf einer Männerstation. Und plötzlich finden die Geschichten mündlich und wie von selbst aus der sonst lieber schreibenden Frau:

Daß sie für die meisten Männer das Sexmäuschen war, das zufällig auch die Tabletten bringt. Daß das losging mit ständigen Kommentaren zu Kleidung und Haartracht. Daß sie die „Modischste“ genannt wurde, bloß weil sie bunte Socken zum Kittel trug. Daß man sie beim Kittelrevers packte, um ihr Namensschildchen zu lesen. Daß sie gefragt wurde, ob es ihr Freund ihr nicht gut besorgt hätte, wenn sie mal nicht strahlte. Daß sie doch wissen müsse, ob man vom Onanieren eine schwarze Nasenspitze bekäme. Daß Wirbelgeschädigte, die frau hochheben muß, sich ausgerechnet am Po festhalten und entsprechende Kommentare absondern. Daß das Repertoire anzüglicher Witze auch nicht vor solchen Rätseln halt macht wie: „Warum kann man Frauen keinen Blasen? Weil sie eine Möse haben.“ Daß sich das alles im Sieben-Betten -Männerzimmer schwindelerregend hochschaukelt. Daß die einzige Mannsperson auf Personalseite, Oberpfleger Gerhardt, mitspielt im Interesse „eines lockeren Betriebsklimas“. Daß dieser Gerhardt immer noch mitscherzt, wenn einer der leider - genesenen Machos bei seinem Abgang sich wiederholt nach dem Kaufpreis der Kleinen, die er mitnehmen wolle, erkundigt.

Daß sie deshalb oft geweint hat. Daß die schulterschlüssige Sieben-Bett-Zimmer-Männerrunde auf das scheue Reh baut. Daß sie selbst nur langsam gelernt hat, sich zu wehren. Daß sie nur drei von zwölf Frauen waren, die sich gewehrt haben. Daß es am besten ist, nicht rot zu werden, sondern zu wiederholen, was die Männer gesagt haben. Zum Beispiel einen Mann, der es wegen angeblicher Steifheit ablehnt, zum Bettenmachen aufzustehen, immer wieder wie taub zu fragen: „Was haben Sie?“ Bis er rot wird. Daß sie aber auch sagen kann: „Hauen Sie ab, Sie Schwein!“ Zum Beispiel zu dem, der nach dem Kaufpreis „der Kleinen“ fragt.

Daß sie sich wegen all dem zwar oft überwinden mußte, einem Kranken den Rücken zu waschen. Daß auch ihr Freund davon was abgekriegt hat. Daß all das sie aber nicht davon abgehalten hat, einem kollabierenden, die Augen verdrehenden Unfallopfer im Bett beruhigend eine halbe Stunde lang die Hand zu streicheln. Daß nach zweieinhalb Jahren nur drei Patienten bleiben, mit denen sie nach Verlassen des Hospitals noch Kontakt hat. Daß ihre Angst, vergewaltigt zu werden, zugenommen hat. Daß sie aber auch die Männer leichter durchschaut. Daß sie einen Versuch bei der mobilen Pflege in Münster abgebrochen hat: Bloß keine Kranken mehr.

Das alles hat sie noch nicht geschrieben. Aber sie hat den Abgang vorm Totschlag geschafft. Wie hatte die taschenschleppende Fee noch lächelnd gesagt: „Ich hab's am Herzen.“ Das wär‘ doch kein schlechter Titel fürs Buch. 4. DIE SCHREIBENDE KRANKENSCHWESTER