Der erdrückende sowjetische Alltag der Perestroika

■ „Gorbatschow ist kein Programm“ - Kai Ehlers hat Vertreter der kritischen Opposition in der UdSSR interviewt / Eine Veränderung des sozialen und politischen Lebens kann nur die Legalisierung der Schattenwirtschaft bringen / In der Uni-Mensa von Leningrad sind die Bestecke angekettet

„Grauheit und Realnost“ herrschen im Lande Gorbatschows. Schon das Einkaufen ist eine Qual, die Schlangen werden immer länger, die Waren rarer und teurer. Der Alltag ist erdrückend, er raubt den Menschen die Kraft, die sie zur radikalen Veränderung ihrer Gesellschaft nötiger brauchten.

Allein in Leningrad werden heute täglich fünf Menschen ermordet, im ganzen Land machen sich Kriminalität und mafiose Strukturen breit. Nationalchauvinistische und antisemitische Strömungen wie die „Vereinigte Front der Werktägigen“ (OFT) oder „Pamjat“ haben großen Zulauf. Viele BürgerInnen wollen auswandern.

Kai Ehlers Eindrücke aus einem Studienaufenthalt in der Sowjetunion im Herbst 1989 - geschrieben im Stil eines Reisetagebuchs, unterbrochen von der Wiedergabe zahlreicher Gespräche und Interviews - sind alles andere als ermutigend, sie tun häufig sogar richtig weh. Doch eine Entmystifizierung von Glasnost und Perestroika in diesem unserem gorbimanischen Lande ist nicht nur notwendig, sie macht das Buch auch zu einer spannenden Angelegenheit. Des Autors Erkenntnis, die Perestroika sei „keine sozialistische Erneuerung, sondern ein Notprogramm zur Liquidierung des realen Sozialismus“, mögen für ihn nicht minder schmerzhaft gewesen sein. Kai Ehlers kommt nämlich aus der radikalen Linken Hamburgs; seinen Job als Redakteur beim 'Arbeiterkampf‘, der Zeitung des Kommunistischen Bundes, hat er allerdings - Konsequenz seiner neuen Erkenntnisse? quittiert.

Seine „zwanzig Thesen“ am Schluß des Buches richten sich deshalb auch an seine alten Gesinnungsgenossen: „Den Menschen, die vierzig oder mehr Jahre Erfahrung mit dem realen Sozialismus hinter sich haben, angesichts ihrer Wünsche nach Marktfreiheit und Selbstbestimmung mit erhobenem Zeigefinger Verrat am Sozialismus vorzuwerfen, geht an der Wirklichkeit mit fliegendem roten Fähnchen vorbei: Gerade der als Staatsdoktrin seit vierzig oder siebzig Jahren allgegenwärtige moralinsaure pädagogische Dirigismus ist das, was sie hinter sich lassen wollen und müssen. Sie brauchen keine linken Pastoren aus dem Westen, die der realen Erfahrung mit dem realen Sozialismus Durchhalteparolen für die Erhaltung des Kommunismus entgegenstellen. Das haben sie bereits im Pionierlager, als Komsomolzen und im militärischen 'Friedensdienst‘ aus den Kochgeschirren gelöffelt. Das trieft seit Jahrzehnten aus der Parteipresse auf sie nieder. Sie brauchen die reale Erfahrung des Kapitalismus, um ihn überwinden zu können, so wie die westliche Linke den realen Zusammenbruch des realen Sozialismus braucht, um über Alternativen jenseits von Kapitalismus und realem Sozialismus nachzudenken.“

Schlüsselwort: Schattenwirtschaft

Eins der Schlüsselwörter für die Analyse, warum der Realsozialismus die Menschen unterdrückt, statt sie zu befreien, ist für Ehlers die „Schattenwirtschaft“. Sein Freund Georgi führt ihn durch die philosophische Fakultät der Universität Leningrad und in deren Mensa. „Schau dir das an, sagt er. Tatsächlich! An den wenigen Tischen sind die Bestecke angekettet. Und das, sagt Georgi, in einem Land, das den 'Sputnik‘ gebaut hat! (...) Es sind zwei Realitäten. Alle wissen es. Keiner redet davon. Das ist unsere ganz große Lüge.“

Die Schattenwirtschaft, eine Art Naturalwirtschaft auf der Basis von Beziehungen, die sich in den Zeiten der Perestroika nochmal erheblich vergrößert hat, ist laut Autor ein „gewaltsam und konsequent tabuisierter und damit illegalisierter Bestandteil der realsozialistischen Wirtschaft. Ihre nach wie vor aufrechterhaltene Tabuisierung liegt als 'unsere große Lüge‘ wie ein Würgeeisen über der Gesellschaft und reproduziert wie eh und je die spezielle realsozialistische Doppelmoral, das Klima der Unterdrückung und Halblegalität“.

Seine Schlußfolgerung: „Wirkliche Bewegung“ könne es nur dann geben, wenn mit der „großen Lüge“ aufgeräumt und die Schattenwirtschaft als Markt und Arbeitsmarkt „ideologisch rehabilitiert und legalisiert wird“. In einem Land, in dem die Arbeitskraft „verrentet“ werde, bedeute das, „ökonomisch gesprochen, (...) den Wert der Arbeitskraft als Ware, moralisch gesprochen, die Achtung für den Wert des Individuums wieder herzustellen. Dies wäre (...) vermutlich die eigentliche Revolution in diesem Land, wenn man denn unbedingt von einer Revolution sprechen muß. Faktisch bedeutet das die Wiederzulassung von Privateigentum an Produktionsmitteln, und sei es auch auf Zeit und unter sozialen Einschränkungen. Unter den gegebenen Verhältnissen ist das zugleich die Frage nach der Rolle der Partei, also die Machtfrage.“

Daß es dazu keine Alternative gibt, betonen auch die von Ehlers interviewten Vertreter der demokratischen Opposition, seien es nun Leningrader Intellektuelle oder Vertreter der estnischen „Volksfront“ in Tallinn, immer wieder. Anatoly Golow, Aktivist der Leningrader „Volksfront“, weist in diesem Zusammenhang auf das hin, was eigentlich bereits klar ist: Im Moment könne niemand mehr bestimmen, „was 'links‘ und was 'rechts‘ in diesem Land sei.

Durch und durch gegen das herrschende System eingestellt und damit eben doch radikal und links argumentiert beispielsweise auch Ekaterina Podoltsewa von der „Demokratischen Union“. „Unser Hauptziel“, so ihre Überzeugung, „ist die Herstellung der Demokratie in unserem Land durch gewaltfreien Widerstand.“ Das sei nur außerhalb der Partei und der Organisationen des Totalitarismus möglich, denn Perestroika führe lediglich zur Legitimation des Bestehenden. „Gorbatschows Erfolge“, bedeutet die Aktivistin dem deutschen Journalisten, „sind für den Export bestimmt. Er macht das System attraktiver für den Westen.“

Im Inneren aber drohe mit der OFT (Vereinigte Front der Werktätigen) „der Ansatz zu einer faschistischen Massenbewegung, die die demokratische Bewegung in Schach halten soll.“ Und: „Ich glaube, daß Gorbatschow auf 15 braune Republiken zusteuert.“

Selbst wenn diese schlimmsten Befürchtungen nicht eintreten sollten, bleiben wahrlich keine schönen Aussichten - aber notwendige Einsichten, auch bei den westlichen Linken.

Ute Scheub

Kai Ehlers: Gorbatschow ist kein Programm - Begegnungen mit Kritikern der Perestroika. Konkret Literatur Verlag, Hamburg 1990