„Die Leute lächeln nicht mehr“

■ Ein Gespräch mit PsychologInnen über die psychosoziale Lage der Menschen in der DDR / Momentanes „PatientInnenloch“ in der Therapie / Aggressive Spannungen nehmen zu

Aus Berlin Ute Scheub

Alle hundert Meter ein Scherbenhaufen. Glassplitter von Frontscheiben oder Reste von roten Rücklichtern, manchmal auch mit einem Stück Blech verziert. Die Straßen Ost-Berlins sind unmittelbar und unübersehbar gezeichnet von den wahnwitzig ansteigenden Unfällen in der gesamten DDR.

Nach Meinung von Psychologe Hahn ist das jedoch nicht nur auf die Ungeübtheit der DDR-BürgerInnen beim Fahren ihres neuen Westautos zurückzuführen. Der Ostberliner Psychologe, der bei der Sonderberatungsstelle „Telefon des Vertrauens“ arbeitet, sieht darin auch den Versuch seiner Landsleute, das fürs eigene Überleben angeblich oder auch tatsächlich notwendige westliche Ellbogenverhalten so schnell wie möglich zu lernen. „Die kaufen sich jetzt einen BMW und drücken auf die Tube. Oder sie drängeln sich auf den Bürgersteigen und in den Kaufhäusern gegenseitig bracchial zur Seite. Wenn ich drüben einkaufen gehe, hat das noch 'ne ganz anständige Form. Aber bei uns kommt jetzt überall die Angst durch: „Wenn ich mich nicht nach oben durchboxe, komme ich zu kurz.“ ***

Sigmund Freud in Grün statt Karl Marx in Rot. Da, wo sonst üblicherweise die realsozialistischen Ikonen standen, am Eingang zur psychotherapeutischen Abteilung des Ostberliner „Hauses der Gesundheit“, ist ihm eine Gedenkecke eingerichtet worden. Grünes Dekor umflort nun das Bildnis des bärtigen Begründers der Psychoanalyse, dessen Bücher in der DDR erst seit rund drei Jahren erhältlich sind. Doch wer nun denkt, daß er hier posthum einen Ansturm von PatientInnen erleben würde, die sich als Beschädigte der prüden stalinistischen oder nun auch der kruden kapitalistischen Gesellschaft erleben, sieht sich getäuscht. Geradezu verloren sitzt im Warteraum eine einzelne Frau an einem der Tische, die hier immer noch in preußischem Reih und Glied stehen.

Einer der hier arbeitenden Ärzte, Dr. Michael Fröse, hat das auf den ersten Blick höchst erstaunliche Phänomen schon am Telefon bestätigt: „Wir haben im Moment nur ein Drittel so viel Patienten wie sonst.“ Paradoxerweise sei gerade das ein Symptom für existentiell angespannte Situationen, wie es auch aus Kriegs- oder Katastrophenzeiten bekannt sei. Die ganze Kraft der Menschen ziele aufs ökonomische Überleben, Psychokrisen würden da als etwas „Luxuriöses“ empfunden. Doch das heiße nicht, daß es ihnen gut gehe, im Gegenteil: „Im Moment ist alles noch zu tumultartig, die Leute dekompensieren noch nicht. Aber wir müssen erwarten, daß es für sie im Herbst psychisch um so schlimmer kommt.“

„Die Leute lächeln nicht mehr. In der S-Bahn sehe ich nur noch Strichmünder“, bestätigt die Psychologiestudentin Nicola Kownatzki. Sie hat in einer psychotherapeutischen Einrichtung einer Kleinstadt gearbeitet, bevor sie hierherkam, und in den Dörfern „nackte Existenzangst und riesige, hilflose Wut“ beobachtet. „Viele haben gedacht, mit Währungsunion und Wiedervereinigung könnten sie ihre Haut wegschmeißen und eine neue kriegen.“ Heute sähen sie, daß das eine Täuschung gewesen sei, daß sie sich extrem anstrengen und „völlig neue Handlungsstrategien“ entwickeln müßten. ***

Die Fußgängerampel an der Friedrichstraße steht auf Rot, die PassantInnen warten brav. Bis auf eine Frau. Sie stürmt los, und, welch eine Katastrophe, ein Auto muß bremsen. Einer der wartenden Fußgänger, ein dicklicher Mann, steht diesem vorsätzlichen Umsturzversuch der Straßenverkehrsordnung fassungslos vis a vis. Sein Gesichtsfarbe übertrumpft mühelos die des obersten Ampellichts, er schnappt nach Luft und schreit die Frau an, als sei sie in flagranti beim Erstechen seines Großvaters erwischt worden.

Psychologe Hahn wird zwar diesen Mann nicht kennen, aber sein überaus wütendes Bestehen auf leeren Regeln, mit denen sich autoritäre Charaktere wie er - an denen die DDR gewiß keinen Mangel leidet - über den Abgrund der eigenen inneren Leere zu hangeln versuchen. Für viele von ihnen - und auch für andere - war im Herbst 1989 eine Welt zusammengebrochen, sie fühlten sich vollkommen entwurzelt. Nicht wenige schütteten bei den juristischen, ärztlichen und psychologischen MitarbeiterInnen vom „Telefon des Vertrauens“ ihr Herz aus: Sie wüßten nicht mehr, was richtig ist, früher seien sie durch den Staat fremdbestimmt worden, jetzt kämen die neuen Fremdbestimmer aus dem Westen. Psychologe Hahn kann nicht ausschließen, daß der Problemdruck im letzten Herbst möglicherweise größer gewesen ist als jetzt, zumindest gab es „mehr Anrufe“. Aber, so glaubt auch er, „die Konflikte, in denen die Menschen drinstecken, werden derzeit durch diverse Überlebensstrategien nur ausgesetzt und überlagert. Letztlich rechnen wir mit einer starken Zunahme von Ratsuchenden“. Gegenwärtig, sagt Hahn, gebe es vor allem zwei Gruppen, die sich entweder bei ihrer Telefonberatung oder in ihrer Sprechstunde melden würden - übrigens immer strikt anonym. Zum einen seien das die von Arbeitslosigkeit Betroffenen, die mit diesem bisher völlig unbekannten Problem nicht fertig würden, und zum anderen die RentnerInnen, die ökonomisch einfach nicht mehr weiter wüßten. Aber natürlich blieben auch die zwischenmenschlichen Beziehungen von der Krise nicht verschont. „In den Arbeitskollektiven beispielsweise herrschte früher gegenseitiges Vertrauen, man erzählte sich alles. Heute sehen viele, wie sie zuerst die eigene Haut retten. Die Entlassungen bringen Schärfe und Haß zwischen die Leute.“

Doch wohin mit den Depressionen und Aggressionen, mit dem beschädigten Selbstwertgefühl? „Wir haben kein Konfliktmodell entwickelt“, bringt Nicola Kownatzki das Dilemma der ehemaligen DDR-Gesellschaft auf den Punkt. Viele DDR-BürgerInnen seien „aggressiv gehemmt“, sagt auch Hahn, „sie haben es nicht gelernt, sich auf angemessene Weise durchzusetzen“. Dadurch, so fürchtet er, „könnte das Aggressionspotential größer werden als in den westlichen Ländern, wo das alles organisch gewachsen ist“. Ergo werde wohl auch die Gewalt in den Familien zunehmen. Und noch „viele Jahre lang“, so seine pessimistische Einschätzung, würden bestimmte Gruppen wie Ausländer, Juden, Roma oder auch die PDS die Sündenböcke bleiben.