Beobachtet in Berlin: Ein Staat stirbt ab

Wenige Tage vor dem Ende des souveränen Staates DDR zeigt sich, daß Friedrich Engels doch recht gehabt hat  ■  Von Ute Scheub

„Das Eingreifen einer Staatsgewalt in gesellschaftliche Verhältnisse wird auf einem Gebiet nach dem anderen überflüssig und schläft dann von selbst ein.„

Friedrich Engels über den Kommunismus

Schlafe, mein Staatchen, schlaf ein. Da, wo am Rande von Berlin-Kreuzberg nur noch Betonbrösel an eine früher so wuchtig hineingeknallte Staatsgrenze erinnern, ist es an der Zeit, ein Wiegenlied zu singen. Man steht da, mitten im ehemaligen Todesstreifen, und das gelbe Unkraut, das hier blüht und wuchert und sachte im Wind nickt, überzieht den einstmals staatstragenden Sandboden mit der vernichtenden Kritik der Nutzlosigkeit. Pscht. Nicht stören an diesem Ort der Utopie. Endlich wird wahr, was wir Linken uns schon immer gewünscht haben, ein Staat entschlummert.

„An die Stelle des Regierens über Personen tritt die Verwaltung von Sachen und die Leitung von Produktionsprozessen.„

Friedrich Engels über den Kommunismus

Plötzlich wachsen grauuniformierte Grenzbeamte aus dem Gelände, in dem statt der Mauer nun der Durchzug herrscht. Und nun plötzlich doch wieder: Die Ausweise bitte - hölzern und lächerlich stehen sie den Menschen im Weg, diese beinah schon abgestorbenen Arme der Staatsgewalt. Welche Daseinsberechtigung haben denn Grenzbeamte ohne Grenze? Staatsdiener ohne Staat? Pscht, laßt sie in Ruhe sterben, die Bürokratie.

Sie hat längst aufgehört, die Menschen zu beherrschen. Hier, wo sich ein Staat auflöst, macht jeder, was er will, und in der Tiefe des Raumes kichert sich Bakunin diabolisch ins Fäustchen. Angeklagte erscheinen nicht mehr vor Gericht, Väter zahlen keine Alimente mehr, Betriebsleiter kennen bei ihren Arbeitern keinen Kündigungsschutz mehr, Soldaten gehorchen ihren Offizieren nicht mehr, Polizisten lassen die Notruftelefone klingeln - die Freiheit blüht, der Schwarzmarkt und das gelbe Unkraut auf dem ehemaligen Todesstreifen. Wie haben wir uns immer die Anarchie gewünscht, nun haben wir sie, wenigstens ein Schnappschuß, eine Momentaufnahme im überreifen Spätsozialismus wenige Tage vor seinem Übergang in den Hochkapitalismus.

„Der Staat wird nicht abgeschafft, er stirbt ab.„

Friedrich Engels uber den Kommunismus

Am westlichen Rand des früheren Todesstreifens residieren ein Türkenjunge und seine Mama hinter einem schiefen Tapeziertisch. Die Mutter blinzelt in die neue, geradezu schmerzhafte Weite - dem Stadtteil Kreuzberg ist die Mauer wie ein Heftplaster weggerissen worden, nun zittert er in der Zugluft. Der Junge, in Erwartung neuer schwärmender Pulks von Amerikanern und Japanern mit Kameraaugen, sortiert historischen Müll in verkaufsgerechte Häufchen. Mauersteinchen aus buntbesprühtem Asbest breitet er aus, Orden und Abzeichen der Roten Armee läßt er klirren, er zeigt auf mollige Mützen aus dem ostdeutschen Heer und sowjetische Soldatenkoppeln mit Hammer und Sichel. „Woher wir das haben? Na, von dem Russ.“ Weiteres wird nicht verraten - Berufsgeheimnis der vielen hundert Händler, die nun genau auf der früheren Frontlinie der russischen Panzer überall bienenfleißig den Ausverkauf der Roten Armee betreiben.

Ein junger Ungar mit wildem Protestbart verscherbelt gar, drei Mark West pro Portion, die pure Luft - leere Konservendöschen mit der Aufschrift in ungarisch, polnisch, russisch, rumänisch, englisch und deutsch: „Der letzte Atem des Kommunismus.“ Daneben bietet ein Ostberliner DDR-Fahnen feil - „ein feiner Stoff für einen Minirock“, finden Passantinnen. Eine Staatsgrenze als multikultureller Trödelmarkt, in dem Militärzubehör und Staatsflaggen als Billigschund verkauft werden - was hätten wir früher gegeben, diese traumhaft subversive Vorstellung einmal leben zu dürfen, und nun kriegen wir's umsonst und draußen.

„Die Menschen haben sich bisher stets falsche Vorstellungen über sich selbst gemacht... Die Ausgeburten ihres Kopfes sind ihnen über den Kopf gewachsen. Vor ihren Geschöpfen haben sie, die Schöpfer, sich gebeugt. Befreien wir sie von den Hirngespinsten, den Ideen, den Dogmen, den eingebildeten Wesen, unter deren Joch sie verkümmern.„

Karl Marx über die deutsche Rechts- und Staatsphilosophie

Die Dogmen, die eingebildeten Wesen, das sind eben auch die Staaten der Welt. Lächerliche abstrakte Gebilde sind sie, Ausgeburten dummer Köpfe, die sich aufplustern und aufrüsten und Menschen einsperren oder ausgrenzen. Wenn sie es zu weit treiben - man sieht in Berlin, was von ihnen übrig bleibt. Gestorben ist der Versuch, mit dem Kommunismus einen Staat machen zu wollen, denn das verträgt sich nunmal nicht.