STRIPTEASE MIT SETZEI

■ Im Mitropa-Speisewagen von Hamburg-Altona nach Berlin-Zoo - ein melancholischer Nachruf auf eine wohl bald schon vergessene Eßkultur

Letzter Aufruf für die Passagiere nach Berlin: Erleben Sie noch einmal die unvergleichliche Stimmung in unseren Mitropa -Speisewaggons. Steigen Sie ein in unsere gute alte DDR -Reichsbahn. Und seien Sie versichert: Dies ist nicht der rasende Zug in die Wiedervereinigung, wenn auch, wer weiß, vielleicht der letzte vor ihm. In unserer schwindsüchtigen Gemütlichkeit, wir versprechen es Ihnen auf die Hand, werden Sie mehr Untiefen erleben als in einer Nacht auf jenem lächerlichen, oft überschätzten Ku-Damm. Hier bei Mitropa trifft sich die Welt.

So etwa würden die Werbeteams säuseln, wenn sich auch nur einem Käskopp in der Berliner Mitropa-Zentrale bewußt wäre, welches Kleinod an historischer Atmosphäre hier in den gammeligen roten Reichsbahnwaggons spazierengefahren wird. In fünfzehn Jahren, wenn die DDR nur noch eine fernwehe Erinnerung ist, werden die Mitropa-Speisekarten unbezahlbar sein. Diese dünnen, leicht verknickten Kärtchen mit ihren lächerlich peniblen Preisen: drei Setzeier 5,40 M, ein Omelett mit Champignons 8,35 M. „Das Kollektiv“, ach, welche Wehmut kommt doch bei dieser Einleitung auf, „das Kollektiv unseres reisenden Restaurants möchte Ihnen die Reise mit schmackhaften Speisen und gepflegten Getränken verkürzen.“

Doch noch ist Mitropas rollendes Restaurant noch ganz real, wenn auch nicht mehr ganz realsozialistisch. Die Reisende gießt sich Kaffee ein, sie reißt das Papiertütchen auf und schüttet ihre 5 g Weißzucker aus dem VEB Zuckerfabrik Nordkristall Güstrow, Betrieb der ausgezeichneten Wertarbeit, in die Tasse. Mit melancholisch verhangenem Blick schaut sie aus dem Fenster zurück in die sechziger Jahre. In den Dörfern bröckelt der Putz, und in den Wäldern sterben die Bäume noch in Würde.

Hier drinnen dräuen die Bratkartoffelschwaden, süßlich mit Desinfektionsgeruch durchsetzt. Bis auf den letzten Platz besetzt, rollt das Restaurant dahin, und das Kollektiv der Kellner keult und keucht. „Ober! Komm mal her! Noch'n Radeberger!“ Das Volk ist frech geworden seit seiner seltsamen Revolution im November, und seine einstige herrschende Klasse, die Kellner, registriert es mit Mißbilligung. Beleidigtes Zurechtzupfen des Fracks: „Für Dich bin ich immer noch Sie!“

Die Reisende schaut sich um. Die merkwürdigste Mischung Menschen findet sich hier ein. Geschiedene DDR-Muttis, französische Schulklassen, Polen mit existentiellem Blick und walkmanverstopftes Jungvolk sitzen sich sprachlos gegenüber. Der Nachbartisch präsentiert eine blondierte Amerikanerin: das Etikett „Official War Photographer in Vietnam“ auf der Lederjacke und hundert Buttons auf dem selten dämlichen Jägerhut. Solche Figuren kann nur das Leben selbst erfinden.

Das Lächeln der Reisenden gefriert. Plötzlich, hinter ihrem Rücken, erhebt sich ein Chor von Fußballfans, rauh und lauthals seine Freude über das Dasein von Bällen, Bräuten und Bieren zu besingen. „Schultheiss-Bier, das loben wir“, auch wenn es jetzt ein Radeberger ist. Die Gläser schäumen, die Tische wackeln, die Ohren dröhnen, die Gänsehaut kriecht. Oh Gott, denkt die Reisende und sinkt in sich zusammen, ich kenn‘ sie doch, die Kerle, gleich holen sie die Nazilieder raus. „Alouette, Alou-Alou-ette!“ Na, das ist gerade noch nette. „Your laughing eyes, your whipping titts, Alouette, Alou-Alou-ette!“ Hm! Hm! Solange sie nicht die Nazilieder...

Die Mauer, die Grenze, endlich. Fürwahr, eine fröhliche Schar, denn just beim Passieren der Berliner Stadtgrenze stimmt sie die Internationale an. Düpiert schauen die Kellner: Sind die Zeiten denn noch nicht vorbei?

Weiß der Himmel, warum: Der Gesangsverein wechselt jetzt über zu inbrünstigen Gospels. „Swing Lord, sweet chariot...“ Und plötzlich stehen sie auf den Sitzen, die Hosen heruntergelassen, in ausgebeulten Unterhosen. Einem ist auch das noch zu viel. Dunkel baumelt und swingt ein Schwänzchen unter dem grünen Pullover. „Swing Lord“, die gefalteten Hände swingen in Schamhöhe mit...

Die armen Kellner. Die armen Mitropa-Kellner. So viele Jahre haben sie brave Menschen brav bedient. Es gab Essen, es gab Trinkgeld, es war in Ordnung. Und nun das. Sie wissen nicht, wohin mit ihren Blicken, sie beugen sich über den Tisch und rechnen und bilanzieren und rechnen, daß die Köpfe rauchen.

Noch hundert Meter bis zum Bahnhof Zoo, bis zur endgültigen Katastrophe. Da endlich faßt sich einer der Ober ein Herz. Als der Zug kreischend hält, gibt es weit und breit nur noch anständige Leute. Mitropa-Adventure-Tours - this is the end.

Ute Scheub