Dorf am Abgrund

■ Der Abriß von Deutsch-Ossig in der DDR und die Umsiedlung der Bewohner ist beschlossen / Doch die Bürgerbewegung will ihren Ort vor dem Kohletagebau retten

Petra Schrott (Text) / Nelly Rau-Häring (Fotos)

Die schmutzigen Hände“ hat jemand mit schwarz-roter Farbe auf das Holztor geschrieben. Bevor Nelly und ich fragen können, was Sartres Titel vor der Baustelle am Kirchengelände bedeutet, erklärt ein Arbeiter eifrig: „Verstehn Se, noa? Das sind die abgehackten SED-Hände.“ Er lädt uns ein, die Reste der Dorfkirche anzusehen, und zeigt, wo die Orgel, der prächtige Altar, die vornehmen Logen waren. Vor dem Abbau wurde jedes Detail fotografiert und registriert. Mit einem Seufzer wünscht sich der Bauarbeiter: „Alles soll wieder so werden, wie es war.“

Eigentlich wäre hier gar nichts mehr, denn mit dem Beschluß zur endgültigen Auskohlung des Tagebaugebietes bei Görlitz, wurde 1986 zugleich entschieden: Das Dorf Deutsch-Ossig wird abgerissen, die Bevölkerung umgesiedelt und die Kirche gesprengt. Für die Bewohner wurde ihre Barockkirche zum Symbol des Widerstandes, wenigstens sie sollte gerettet werden. Die Deutsch-Ossiger drohten, sie mit allen Mitteln zu verteidigen. Notfalls wollten sie sich auf dem Kirchengelände verschanzen. Aufruhr war das letzte, was die Energieplaner brauchen konnten. Zügig sollte das Dorf plattgewalzt werden, damit die darunterliegende Kohle geschürft werden kann und die auf Nachschub wartenden Kraftwerke rauchen. Zur Ruhigstellung der Bewohner wurde deshalb das Abrißobjekt Kirche zum nationalen Kulturdenkmal erkoren, ein Wiederaufbau an anderer Stelle garantiert.

Noch steht das Deckengewölbe und wie zum Hohn ist zwischen den gemalten Blumenbouquets der Psalm zu lesen: „Wie lieblich sind deine Wohnungen Herr Zebaoth.“ Vom Kirchturm wollen wir uns einen Blick über das Dorf verschaffen. Geschickt balancieren die Arbeiter auf den Dachbalken. „Nichts wie weg hier, das war mal ein begehrter Spruch“, sagt einer und klopft auf die westliche Plakette am Bauhelm. Im Glockenturm ist es duster, die getrocknete Taubenscheiße zerbröselt unter den Schritten. Oben angekommen stoßen wir das Fenster auf, sofort schlägt uns der kalte Wind entgegen. Das Dorf wird von einem Erdwall umschirmt, in dem schon die rostigen Schaufelbagger graben, die wie riesige Flaggschiffe im Sand liegen, schwarz-rot-goldene Fahnen obenauf. Dahinter erstreckt sich die Kohlengrube weit ins Land hinein. In der anderen Richtung schleudern die Kraftwerke von Hagenwerder den Dreck in die Luft. Noch eine Drehung, da schlängelt sich die Neiße, der Grenzfluß zu Polen.

Nur 40 sind noch da

Unten im fast ausgestorbenen Dorf, das 1.000 Einwohner gezählt hat, harren noch vierzig Familien aus, auch ihre Übersiedlung ist angeordnet. Überall die scharfen Geräusche des Tagebaus. Das Mahlen der Baggerschaufeln, manchmal dazwischen der dumpfe Ton von Sprengungen. Über die Böschung hinweg ist auch das Schleifen der Betriebsbahn auf den Schienen hörbar, ein leises Bimmeln vor der Abfahrt des Zuges. Mit Schlössern verriegelt sind die Gartentore, in den verlassenen Häusern sind die Gardinen zugezogen, als kämen die Bewohner noch einmal zurück. Mitten im Bauerngehöft verrottet ein Kinderlaufstall, die Stalltüren haben sich gelöst und knarren im Sturm. Leere Holzbänke unter den blühenden Bäumen, Spinnweben haben die Karnickelställe überzogen. Im Müllberg stöbert eine Frau nach Brauchbarem. „Trautes Heim Glück allein“, heißt es auf einer Hausinschrift, der Vorgarten ist gepflegt. Im Nachbargarten wuchert bereits der Löwenzahn. Ein Kindertraktor vor der offenen Tür. „Jemand da?“ Auf dem Tisch noch Kaffeetassen, ein geöffneter Brief, ein Fotoalbum mit zurückgelassenen Erinnerungen, herausgerissene Schubladen. Überstürzter Aufbruch? Plünderung? DDR-Jubel-Fähnchen aus Papier unter dem Herd. Im Wohnzimmer ist der Bodenbelag bis auf die Erde herausgerissen. Modergeruch. Eingelagerte Äpfel schimmeln im Flur. Verwüstung im Schlafzimmer, über die zerstöberten Betten hat jemand vorsichtig ein Brautkleid gelegt, ordentlich den Schleier über das Holzgestell gehängt. Ein leerer Koffer, nicht eingepackt vom Nachttisch das Kinderbuch Auf dem Flug nach Havanna. Vergessen? Beklommen gehen wir Eindringlinge aus den privaten Räumen.

In der Gaststätte „Friedensgrenze“ mahnt uns ein Schild, „Die Sitzordnung ist einzuhalten“. Junge Kartenspieler laden uns ein. Sie wohnen nicht mehr in Deutsch-Ossig, doch im Gasthaus treffen sie sich, sooft es geht. „Uns fehlt ja die Umwelt, der jahrelange Zusammenhalt. Die können uns nicht auseinanderreißen“, erklärt trotzig ein Zwanzigjähriger. Abschätzig die Kommentare zu den neuen Wohnungen. „Früher hatten 80 Prozent ein Plumpsklo, jetzt wird halt auf Plastik geschissen.“

Bei der Umsiedlung wurde unterschieden zwischen Eigentümern und Mietern. Wer ein Haus auf volkseigenem Boden besessen hat, dem wurde zur Entschädigung ein Eigenheim im benachbarten Kunnerwitz gebaut. Und wer zur Miete wohnte, „der mußte in den Block“, eine Neubausiedlung in der Vorstadt Weinhübel. Verbittert reden die jungen Leute von der „schnellen und billigen Lösung der Kommunisten“. Jeder Widerstand gegen die staatlichen Pläne sei vor der Wende zwecklos gewesen. Die anrollenden Bagger hätten diejenigen, die ihr Haus nicht freiwillig räumten, vor vollendete Tatsachen gestellt. Aber jetzt wollen sich alle für die Rettung des Dorfes engagieren.

Weg mit den Blechschillingen

Die Geschichten von der Umsiedlung werden immer wieder unterbrochen von der nun als bedrohlich erlebten Gegenwart. „Ich hab solche Angst. Wie soll ich leben, wenn ihr uns die Preise diktiert“, schreit die Wirtin Elke betrunken heraus. Sie kann nicht verstehen, daß ich nicht weiß, wieviel ein Wäschetrockner oder ein Mikrowellengericht kostet. Nach der Wende hat sie auf „die Rettung in eine bessere Welt“ gehofft. Unter Tränen begräbt sie die alte Zeit: „Da hatte ich wenigstens ein Recht auf Arbeit und Wohnung.“ Der bisher durch seine Gelassenheit auffallende rundliche Gast unterbricht sie: „Schluß jetzt, die Währungsreform muß her. Weg mit den Blechschillingen. Dann fangen wir eben bei Null an, wenn die Westmark kommt.“

Wir besuchen den Pfarrer, der sich inzwischen von der evangelischen Kirche getrennt hat. Nun ist Dieter Liebig Vorsitzender der Grünen Liga Görlitz und wird als „Anführer der illegalen Bewegung“ bezeichnet, womit die Bürgerinitiative Deutsch-Ossig gemeint ist, die für den Erhalt des noch bestehenden Oberdorfes kämpft. Im Januar haben am Görlitzer Runden Tisch die Verhandlungen mit Vertretern des Bergkraftwerks begonnen. Eine unabhängige Untersuchungskommission im Bezirksamt Dresden ist eingesetzt worden und prüft, ob es bei den alten Plänen von Abriß und Kohleförderung bleiben wird. Offiziell ist für die Ausschürfung eine Auslaufkurve von zehn Jahren vorgesehen. Nach ihrer Privatmeinung gefragt, geben Fachleute der Grube höchstens noch zwei Jahre.

Die Energieplaner stehen unter erheblichem Druck, denn ein Zehntel des Energieaufkommens für die Republik stammten aus den Kraftwerken Hagenwerder, die mit der Kohle aus dem umstrittenen Gebiet gespeist werden. Wegen der Höhenunterschiede und der damit verbundenen Rutschungsgefahr gehört die Grube zu den schwierigsten Abbaugebieten der DDR. Zudem ist es schon lange kein Geheimnis mehr, wie schlecht die geförderte Kohle ist. Um Turbinen zu betreiben, ist ein Heizwert von 15 Prozent erforderlich, seit Jahren wird die 13prozentige Kohle durch Ölzufuhr angereichert. Die Bürgerinitiative fordert eine grundlegende Überprüfung der Energiepolitik und der damit verbundenen Möglichkeit zum Erhalt der zum Abriß vorgesehenen Dörfer.

Im Mai fällt die Entscheidung

Die Deutsch-Ossiger haben andere Tagebaugebiete vor Augen, wo geplante Abrißprojekte nach der Wende gestoppt wurden, Dörfer, die wie sie sagen, „in die Freiheit entlassen wurden“. Das Bergbaugesetz, das bisher dem Staat uneingeschränkte Rechte für alle bergbaulichen Maßnahmen gegeben hat, soll geändert werden. Die Initiative fordert die Rekultivierung der zerstörten Landschaft, in der langfristig ein Erholungsgebiet entstehen soll. Ende Mai fällt die Entscheidung, ob die bereitstehenden Bagger auf das Dorf zurollen oder ob es erhalten und neu besiedelt werden kann. Pfarrer Liebig ist optimistisch: „Wir schaffen es. Wir werden uns in Zukunft zu wehren wissen. Wir sind ja noch mitten in der Revolution. Dann gehen wir eben wieder auf die Straße.“

Im früheren Pfarrhaus von Deutsch-Ossig arbeitet heute der Fotograf Matthias Lüttig, der die barocke Ausstattung der Kirche dokumentiert, bevor sie in Kisten verschwindet. Das Institut für Denkmalpflege garantiert für vierzig Jahre die schadlose Lagerung. „Noch ist ja völlig ungewiß, wann der Wiederaufbau beginnt“, sagt Lüttig, „all die Zerstörung für das bißchen Blumenerde.“ Der Fotograf ist in Eile, denn er will ausstellen, was er jahrelang in der Schubladen verstecken mußte. „Fotos aus der alten Zeit, aber wir haben ja nicht eine Minute innegehalten zur Bestandsaufnahme.“ Eine Serie zeigt Porträts des Allgegenwärtigen an den Jubeltagen der Republik in ironischen Zusammenhängen: Honecker in Schaufenstern, neben Exotik fürs Heim oder angepriesen zwischen Ersatzteilen und Zubehör.

Honeckers Spur auch im Büro der Bürgermeisterin, ein weißes Quadrat auf vergilbter Tapete. Seit 1974 sitzt Hilda Warmut auf ihrem Amtsstuhl und liefert ihre Version „vom Beschluß des Ministerrates zur vollständigen Devastierung Deutsch -Ossigs und der damit verbundenen Wohnraumsubstanzverbesserung für die Bürger“. Das Wohnen im Ort sei ein bißchen erdrückend geworden, weil die Bagger täglich näherrücken, aber schließlich gehe das Gesamtanliegen der Republik vor. Die Initiative des Pfarrers wecke nur falsche Emotionen und trage zur Verunsicherung bei. Und dann sagt sie: „Die Sterberate im Ort hat immer bei sieben bis zwölf Prozent gelegen.“ (Die Dorfbevölkerung weiß, daß diese Zahl vier Selbstmorde unmittelbar vor der Umsiedlung enthält.) Hilda Warmut, die die Auflösung des Ortes verwaltet, verabschiedet uns zufrieden mit den Worten: „Wir waren ein gutes Kollektiv.“

Ganz anders sehen das die Mitglieder des Kollektivs, die wir noch antreffen. „Wir haben umsonst auf Humanität gehofft“, resümiert ein Bauer. Viele, die wie er aus Polen gekommen sind, erleben die Umsiedlung als zweite Vertreibung. „Ich habe ja schon mal alles verloren. Mit zwei Kindern und einem Handwagen bin ich gekommen. Jetzt nehme ich wieder nur mit, was auf den Handwagen paßt“, erinnert sich eine alte Frau.

Mein Schlesienland, mein Heimatland. Wir sehn uns wieder - die Noten zum Schlesierlied hängen in einem Schaufenster. Für den größten „Blödsinn“ halten viele die neue Schlesierbewegung, denn sie würde „nur denen drüben nützen“. Der Haß auf die Polen ist groß. Immer wieder wird uns erzählt, daß die Polen sich bereichert hätten, indem sie die Läden der Lausitz räumten und mit dem Weiterverkauf der „gestützten Wurscht“ verdient hätten.

Kein grünes Fleckchen mehr

Kilometerlange Staus an der Grenze, die polierten Westwagen, mit denen Polen in ihre Heimat fahren, wecken den Neid der Nachbarn. Für den Bergbau wird auch sonntags in vier Schichten gearbeitet. Sechzig Meter tief wird der Beton in die Erde gegossen. Diese Schlitzwand soll verhindern, daß die Grube vom Wasser der Neisse überflutet wird. Bis vor einigen Monaten ist an der sogenannten Friedensgrenze noch scharf auf die Flüchtlinge geschossen worden, erzählen uns die Arbeiter. Einer zeigt den Gorbisticker auf seiner Mütze und sagt, „die neue Zeit hat der ja angezettelt, ist schon gut so“.

Wir sehen uns an, wohin die Deutsch-Ossiger umsiedeln müssen. In der Eigenheimsiedlung ist schlechte Stimmung. „Mit Ihnen red ich erst, wenn wir die Einheit haben!“, schreit uns ein Alter mit dunkler Brille an. Sein Nachbar ist auch nicht gesprächig. „Man weiß ja nicht, was wahr ist, aber wir sind jetzt erst mal hier“, brummt er vor sich hin, während er Farbkleckse entfernt. Einige Häuser sind noch im Rohbau. Weil die Zeit drängt, wurde eine polnische Baukolonne zur Unterstützung angeheuert, zum Ärger der Kollegen von der VEB 7. Oktober. „Die verdienen am Ende noch mehr als wir, nehmen uns die Arbeit weg, jetzt wo alles teurer wird.“

Im „Block“, der Mietskaserne in der Vorstadt Weinhübel, sind die Übersiedler aus Deutsch-Ossig nicht willkommen. Sie verschärfen die ohnehin angespannte Versorgungslage. 20.000 Bewohner warten stundenlang, bis sie in der einzigen Kaufhalle etwas erstanden haben. „Wie's ist? Sehn Se doch, beschissen, außer, daß ich nicht mehr feuern brauch‘, alles beschissen“, beschreibt ein Neuankömmling seine Situation. Seinen Eindruck teilen wir. Zwischen den Hochhäusern gibt es kein grünes Fleckchen.

Im Getränkestützpunkt „Lockschuppen“ sind die ehemaligen Deutsch-Ossiger gesprächiger. Rauchschwaden und Fuselgeruch, zum Frühschoppen wird die neueste 'Bild am Sonntag‘ verschlungen. Alleine sitzt Detlev Marschall, ein ehemaliger Assi (Asozialer), der sich über das Leben im Block beklagt. „Alles so plump hier, wie bei der Armee, hier gibt's keine Freiheit mehr, kein‘ Balkon nüscht.“ Auch er will das Dorf mitverteidigen. Wegen der Wende ist er aus dem Knast Luckau amnestiert worden. „Da ham wer och gestreikt, hat och wat gebracht.“

Das Widerstandssymbol der Deutsch-Ossiger, die alte Barockkirche, wird nicht in der Nähe der Umsiedlungsgebiete wiedererbaut. Ihre Rekonstruktion ist im entfernten Neubaugebiet Königshuven geplant. Bisher liegen neben der Straße der Oktoberrevolution nur mit Nummern versehen alte Treppenstufen. Solange es keine Kirche gibt, werden die Kinder des Stadtteils in einem ausrangierten Zirkuswagen in Christenlehre unterrichtet. Aus dem kuriosen Mobil, am Rande der Hochhäuser, klingt Kindergesang: „Die kleinste Wurst ist ihm zu klein, dem armen Dorfschulmeisterlein.“