Zollfreier Einkauf sorgt für Chaos in der Kantstraße

■ Billige Elektrogeschäfte in der Kantstraße ziehen massenhaft polnische Besucher an Versperrte Bürgersteige und verdreckte Hauseingänge verärgern die AnwohnerInnen

Wie Pilze schießen die Import-Export-Läden an der Kantstraße aus dem Boden: Meist billige Elektro- und Hifi-Geräte werden mehrwertsteuerfrei an polnische Berlin-Besucher in rauhen Mengen verkauft. Viele AnwohnerInnen befürchten nun, daß der Charakter der Kantstraße, „einst schönste Berliner Wohngegend mit vielen Kneipen und ästhetischen Läden“ den Bach runter geht. Statt dessen würden jetzt „busseweise die Polen ausgeschüttet“, die die Straßen verstopften und das Stadtbild zerstörten - beschwerten sich Bewohner gestern auf einer Pressekonferenz.

Ermöglicht wird der florierende Handel durch die Zollgesetze: Auf exportbestimmte Waren wird keine Mehrwertsteuer erhoben. Viele Polen kaufen daher in West -Berlin, ähnlich wie die Westberliner in den Intershops, die verbilligte Ware. Häufig werden diese dann auch in Polen gewinnbringend weiterverkauft. Der durch die ehemalige Zwangswirtschaft in Polen gut geübte Schwarzhandel wird so weitergeführt. Reißenden Absatz finden Videorecorder, Kompaktstereoanlagen und „Ghettoblaster“.

Besonders die alteingesessenen Geschäftsleute reagieren auf die neuen Nachbarläden und die ungebetene Kundschaft erbost. „Ältere Leute kommen nicht mehr zu uns“, so ein Mitglied der „Initiative Geschäftsleute und Bewohner der Kantstraße“. Seit Dezember seien ihr Waren im Wert von rund 20.000 Mark gestohlen worden, früher seien im gleichen Zeitraum maximal für 500 Mark Waren geklaut worden, berichtete eine andere Geschäftsfrau. Die Gemüter auf der Pressekonferenz waren erhitzt, rassistische Äußerungen nicht selten: „Die kommen hier stinkend und mit Bierflasche, Schnaps und Dosen in meinen Laden rein“ und „Die sind ja zum Klauen erzogen“, hieß es.

Die Hanseatic-Bank will jetzt in eine andere Straße umziehen, unter anderem wegen des „neuen Umfeldes“. Kunden würden morgens anrufen und beklagen, daß sie nicht mehr hereinkommen könnten, klagt der Filialleiter. Direkt neben der Bank befindet sich einer der Import-Export-Läden, und schon vor 9 Uhr stehen rund 100 bis 150 Polen in der Schlange und versperren den Eingang. Insbesondere ältere Personen würden sich da nicht mehr durchtrauen.

Wer die Kantstraße entlangläuft, kann den Ärger nachvollziehen: Die Schlangen vor den Billig-Läden versperren den Bürgersteig. Große Pakete schleppende Menschen rempeln - wahrscheinlich unbeabsichtigt - andere Passanten an. Hauseingänge werden als Toiletten mißbraucht. Wer im „Aldi“ etwas kaufen will, muß mindestens eine halbe Stunde Schlange stehen. „Bei aller Toleranz der Berliner, da machen viele nicht mehr mit“, so eine Anwohnerin. Trotzdem gibt es Geschäftsleute, die der neuen Lage Positives abgewinnen können: „Ich finde es schön, daß so viele Leute hier sind. Es ist lebendig geworden“, meint ein Kunsthändler. Und auch die schon länger ansässigen Elektrohändler und Lebensmittelgeschäfte wollen den neuen Besucherstrom nicht verdammen - schließlich profitieren sie davon.

Auch wenn einige rechtsorientierte Personen versuchten, die Entwicklung für rassistische Propaganda auszunutzen, sei „die Stimmung eher Aggressivität gegen Menschenmassen als Ausländerfeindlichkeit“, meint der Wirtschaftsstadtrat von Charlottenburg, Helmut Heinrich (CDU). In einer Diskussionsveranstaltung mit Anwohnern, Geschäftsleuten, der Polizei und SenatsvertreterInnen will er am Montag (19 Uhr, Rathaus Charlottenburg) dafür sorgen, daß „sachlich“ über die Beschwerden geredet wird. Die Lösungsmöglichkeiten sind gering: „das Aufstellen von Toiletten alleine“ beseitige die Probleme nicht, so Heinrich. Auch ein verstärkter Polizeieinsatz und rigide Gewerbekontrollen würden nicht greifen. Erst wenn sich der Lebensstandard in den Ostblockländern dem westlichen angepaßt habe, so Heinrich, „erledigt sich das Problem von selbst“. Für die nächsten Monate rechnet er mit einer Zunahme der Konflikte in der Kantstraße und bald auch verstärkt in anderen Stadtteilen.

Rochus Görgen