Doppelter Reclam

■ Nach vierzigjähriger Trennung soll es jetzt zur Kooperation zwischen den Reclam-Verlagen in Stuttgart und in Leipzig kommen

Im Hohenzollern-Saal des Stuttgarter Hotels am Schloßgarten wurde der erste Schritt zur Kooperation zwischen den Reclam -Verlagen Ost und West bekanntgegeben.

Stefan Reclam-Klinkhardt und Dietrich Bode vom Stuttgarter Verlag und Roland Opitz, Lothar Kretschmer und Stefan Richter aus Leipzig erklärten der Presse, was sie in der Nacht vorher ausbaldowert hatten.

Nichts Weltbewegendes, zumal die „Vereinbarung“ nur gilt, solange es zwei deutsche Staaten gibt. Aber immerhin scheint der Reclam-Verlag Stuttgart den Weg zur Wiedervereinigung über die Anerkennung gehen zu wollen.

In dem 1978 bei Reclam Stuttgart erschienenen Band „150 Jahre Reclam - Daten, Bilder und Dokumente zur Verlagsgeschichte“ liest man: „Dr. Ernst Reclam hat seit Oktober 1948 seinen Wohnsitz in Berlin-Charlottenburg und arbeitet wochentags im Verlag in Leipzig. Nach zweimaliger Verhaftung in Leipzig entschließt er sich im Mai 1950, mit seiner Frau nach Bad Heilbrunn in Oberbayern überzusiedeln.

Die mit seinem Vertrauen in Leipzig tätige Geschäftsleitung wird in der Folgezeit abgelöst, der Verlag unter Treuhandschaft gestellt, 1953 vorübergehend als Volkseigener Betrieb, nach mehreren Umorganisationen seit 1958 mit staatlicher Beteiligung und seit 1963 unter Trennung vom graphischen Betrieb fortgeführt.

Der Leipziger Verlag produziert seit 1963 eine Universal -Bibliothek mit neuem Nummernsystem und verändertem Format und seit 1976 durch Druck sämtlicher Taschenbücher der DDR in einem graphischen Großbetrieb mit nochmals vergrößertem Format. Die Benutzung des Familiennamens Reclam in Leipzig und des Begriffs 'Universal-Bibliothek‘, die als Warenzeichen geschützt sind, ist als illegal anzusehen. Die Angehörigen der Familie leben ausnahmslos in Westdeutschland. Die Einfuhr der Leipziger Reclam-Produktion in die Bundesrepublik Deutschland ist seit 1952 untersagt.“

Mit diesem status quo wird durch die Vereinbarung gebrochen. Die beiden Firmen sind übereingekommen, Verlagsnamen und die Namen ihrer Buchreihen stärker zu unterscheiden. Der Stuttgarter Verlag heißt wie gehabt „Philipp Reclam jun.“, der Leipziger in Zukunft „Reclam -Verlag Leipzig“, die Stuttgarter Buchreihe heißt „Universal Bibliothek Nr...“, die Leipziger: „Reclam-Bibliothek Band...“

So fein unterschieden wollen jetzt beide in beiden deutschen Staaten in allen deutschen Buchhandlungen konkurrieren. Wer freilich denkt, die Leipziger würden mit ihrem extrem preiswerten (siehe den sehr schönen Band über den „Blauen Reiter“) Buchprogramm morgen den bundesrepublikanischen Buchhandel überschwemmen, täuscht sich. Zuerst müssen der Vereinbarung entsprechend Verlags und Reihensignet geändert werden. Nur Bücher mit der neuen Bezeichnung dürfen in die BRD.

Lektor Stefan Richter wies auf der Pressekonferenz darauf hin, daß man damit rechnen müsse, daß es wohl Monate dauern werde, bis eine entsprechende Produktion vorliege. Den kleinen Vorteil der Leipziger, im Augenblick billig produzieren zu können, dürfen sie also nicht nutzen, um jetzt teurer zu verkaufen.

Die freie Marktwirtschaft wird schwierig für die Leipziger. Ein extrem ungleicher Wettbewerb. Der Leipziger Betrieb produziert mit 56 Mitarbeitern 50 neue Titel im Jahr und erwirtschaftet damit einen Umsatz von sechs Millionen Mark im Jahr. Die etwa 150 Stuttgarter Mitarbeiter produzieren einhundert neue Titel im Jahr und kommen - freilich inkl. der Druckerei - auf einen Jahresumsatz von 21 Millionen DM.

Hinzu kommt, daß die Stuttgarter Familie Reclam mit 21,4 Prozent im Leipziger Betrieb sitzt, daß sie - wenn die vom Staat gehaltenen Anteile zurückgegeben werden - auf jeden Fall mit noch einmal etwa 20 Prozent beteiligt ist, sodaß ihr schon beim derzeitigen Stand der Dinge über 40 Prozent des Leipziger Betriebes gehören.

Angesichts dieser Situation nehmen die Träume von langer Selbständigkeit, ja von Selbstverwaltung mit Wahl des Betriebsleiters durch die Beschäftigten, wie einige der Leipziger Reclams sie hegen, sich doch sehr blauäugig aus. Der bisherige Verlagsleiter Roland Opitz ist seit dem 1.März nicht mehr auf seinem Posten. Die Stelle wurde - ein Novum in der DDR-Verlagsgeschichte öffentlich ausgeschrieben -, die Bewerber stellen sich diese Woche vor. Als aussichtsreicher Kandidat freilich gilt die Hausbewerbung Stefan Richter.

In seinem Lektorat wurden für 1990 unter anderem herangeschafft: Wolfgang Leonhards „Die Revolution entläßt ihre Kinder“, ein antistalinistischer Klassiker über die frühe Phase der Sowjetisierung („Gruppe Ulbricht“) der späteren DDR; Hannah Arendts „Eichmann in Jerusalem“, wohl die eindringlichste Studie eines Apparatschiks, die jemals geschrieben wurde; „Die Unfähigkeit zu trauern“ des Ehepaars Mitscherlich, eine Studie über Verdrängung schuldhaften Verhaltens. Das sind klassische Texte, denen man Millionen von Lesern wünscht, wenngleich zu befürchten ist, daß in der DDR jetzt auch erst einmal die Ärmel hochgekrempelt werden und aufgebaut wird. Die Auseinandersetzung mit den beiden Diktaturen und dem, was ihre Kontinuität ausmacht wird wohl erst in zwanzig Jahren, nach dem Wiederaufbau, beginnen. Vielleicht schlägt dann die Stunde für Hannah Arendts vielgeschmähte und viel zu wenig gelesene „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“. Die Theorie scheint immer zu spät zu kommen, selbst dann wenn es sie schon gibt und wir nur nach ihr zu greifen brauchen. Aber wir betrachten sie als Medizin, die wir auch erst zu uns nehmen, wenn die Krankheit schon ausgebrochen ist.

So schön das Programm des Leipziger Reclam-Verlages auch ist, so sehr wir uns auf den Almanach „kopfbahnhof“ freuen, der versuchen wird Platz für Essays zu bieten, so skeptisch gestatten wir uns doch in die Zukunft zu sehen. Die Leipziger Reclam-Mannschaft scheint davon auszugehen, daß sich im großen und ganzen auf dem DDR-Büchermarkt, auch wenn es kein DDR-Büchermarkt mehr ist, sondern nur noch der von Thüringen, Sachsen, Brandenburg und Umgebung, kaum Veränderungen geben wird. Sie denken, noch eine Weile so weiter produzieren zu können wie bisher.

Vielleicht ist das der Grund, warum Reclam Stuttgart zu allen Leipziger Überlegungen über Selbstverwaltung und Enthierarchisierung freundlich nickt. Sie müssen sich aus der Perspektive eines auf den großen Markt setzenden Unternehmens wie Sandkastenspiele ausnehmen.

Ein so anspruchsvolles Programm wie das der Leipziger wird sich, wenn erst einmal die deutsche und angelsächsische Unterhaltungsliteratur Eingang in die DDR-Buchhandlungen findet, nicht mehr mit einer Durchschnittsauflage von 25 000 verkaufen lassen. Der Hunger aufs reißerisch Blöde wird nach jahrzehntelangem Regiment durch verhinderte Oberlehrer

-enorm sein. Reclam Leipzig wird in der DDR erheblich weniger absetzen können, muß also sehen, wie er in den ihm ganz und gar unbekannten westlichen Buchmarkt vordringen kann. Das erfordert nicht nur viel Arbeit, Energie und guten Willen, sondern auch Kapital.

Reclam Stuttgart hat davon jede Menge und Know-how und einen Vertrieb dazu. Was wird näher liegen, als darauf zurückzugreifen. Stefan Reclam-Klinkhardt, nach den Interessen der Familie befragt, antwortete: „Kapitalerhöhung“.

Dann wird Reclam Stuttgart seinen Anteil noch einmal prächtig aufstocken können, die zwanzig Prozent, die die Leipziger Firma von ihrem Betrieb hält, werden auf weniger als fünf Prozent herabgehen und aus den beiden Reclam -Verlagen wird ein doppelter Reclam geworden sein.

Arno Widmann