Japan wählt zwischen Scham und Schuld

Japans Wähler empfinden Scham über ihre skandalgebeutelte LDP-Regierung / Expremier Nakasone appelliert an das Pflichtgefühl seiner Wähler  ■  Von Ch.Yamamoto und G.Blume

Takasaki (taz) - Vom Himmel fällt das Wahlgeschenk. Yasuhiro Nakasone versteht den Wink des Schicksals. Keine 24 Stunden ist die Schwester tot, da steht der Bruder auf dem Bürgersteig seiner Heimatstadt Takasaki, hält das Megaphon in der Hand und schreit: „Meine Schwester ist gestern abend gestorben. Sie hat mich immer unterstützt. Sie hat immer zu mir gesagt: 'Mach weiter. Gib dir Mühe.‘ Nun ist sie gestorben. Das ist sehr traurig. Aber ich muß die Trauer überwinden und kämpfen.“ Zweihundert Zuhörer senken erst die Köpfe und klatschen dann begeistert Beifall. Schon am frühen Morgen stehen sie im kalten Wind auf einem Tankstellenhof beisammen. Das tun sie nur für ihren berühmten Kandidaten. Yasuhiro Nakasone, der heute um sein Mandat im Tokioter Unterhaus kämpft, ist der Welt kein Unbekannter.

Viele Japaner waren stolz auf ihn, weil er ihrem Land im Westen zu neuem Ansehen verhalf. Vier Jahre lang, von 1983 bis 1987, galt Nakasone als Japans erster starker Regierungschef seit Kriegsende. Doch das ist lange her. Nun steht er mit dem Megaphon und weißer Plastikbinde eines Unterhauskandidaten um die Schulter bei seiner Morgenansprache. Schwerfällig begewgt sich der einundsiebzigjährige in den Toyota-Bus zurück.

Drei Stunden schon kriecht der Wahlkonvoi ohne Halt durch die kleine Gewerbestadt Takasaki, 100 Kilometer nördlich von Tokio. Vorneweg zwei Autos mit Wahlhelfern im weißen Anorak. Die winken mit weißen Handschuhen. Dann folgt der Nakasone -Bus. „Ich bin Nakasone. Hier komme ich zu Ihnen. Ich kämpfe mit aller Kraft.“ Zwischendurch löst eine sanfte Frauenstimme den Kandidaten ab. „Hier kommt Nakasone in Person. Wir danken für ihre Unterstützung.“ Kaum einen Atemzug lang verstummt das Megaphon. Manche bleiben gar stehen und senken den Kopf zur Verbeugung. Dafür bedankt sich Nakasone per Lautsprecher.

Das ist das ewige japanische Wahlkampfritual. Durchs ganze Land ziehen jetzt die Megaphonwagen, und überall verbeugen sich die Fußgänger, je ländlicher die Gegend, desto häufiger. Noch in der heißen Wahlkampfphase begegnen sich Wahlvolk und Kandidaten in der Öffentlichkeit mit den Gesten demonstrativen Einverständnisses. Das ist Nakasones letzte Chance. Im Kult der Höflichkeit versucht er vergessen zu machen, was alle wissen, und von dem niemand weiß, ob es die Wahl der Nation entscheiden wird.

Grund zum Zweifel

Der ehemalige Regierungschef gilt als Hauptverantwortlicher in Japans schwerster Bestechungsaffäre der Nachkriegszeit, dem sogenannten „Recruit-Cosmos-Skandal“. Samt LDP -Spitzenriege strich der Premier Millionengewinne im abgesprochenen Aktiengeschäft mit dem Konzern ein. Hinzu kommt, daß es Nakasone war, der hoch und heilig bei den letzten Parlamentswahlen beteuerte, „niemals“ eine zusätzliche Mehrwertsteuer in Japan einzuführen. Genau das aber tat die LDP im vergangenen Jahr und weckte damit Wählerzorn und Zweifel an zukünftigen Wahlversprechen.

Die Tokioter Kommentatoren betrachten den Wahlkreis von Takasaki als Spiegelbild der Nation. Hier kandidierte Nakasone vor 40 Jahren das ersten Mal, und heute, sagt sein Wahlkampfleiter, kämpft er wieder wie damals. Allerdings machen ihm unterdessen drei weitere aussichtsreiche LDP -Kandidaten den Wahlkreis streitig. Da Nakasone selbst die Parteimitgliedschaft nach dem Skandal Niedergelegt hatte. Und die Oppositionsparteien stellen diesmal ein Spitzenaufgebot. Neben dem Generalsekretär der japanischen Sozialisten (JSP), Isurno Yamaguchi, bewirbt sich ein Kandidat des mächtigen Gewerkschaftsbundes Rengo, Kenichi Shiraichi, um ein Mandat, und zwar mit der Unterstützung aller Oppositionsparteien. Damit hat Takasaki die bestbesetzte Kandidatenliste in Japan. Schafft es die Opposition hier, der LDP zwei von vier Parlamentssitzen abzutrotzen, dann wird es der Regierungspartei wohl auch landesweit kaum gelingen, ihre absolute Mehrheit im Tokioter Unterhaus zu bewahren.

Wer also entscheidet die Wahl in Takasaki? Bei den größeren Wahlveranstaltungen zeigt sich die Stärke der Kandidaten. Dreitausend Arbeiter stehen in strömenden Regen auf dem Hof einer Zementfabrik, als Shiraichi seine Kandidatenrede hält. Männer und Frauen mit festen Gesichtern und einfacher Kleidung. „Nakasone ist korrupt. Wir werden gegen ihn siegen“, feuert ein Bauarbeiter die Kollegen an. „Ich bin hergekommen, um mich vor der Wahl zu informieren“, spricht schüchtern eine Mutter mit Kind. „Denn für die Regierung in Tokio empfinde ich nur noch Scham.“ Scham - das ist in Japan eines dieser höflichen, aber furchtbaren, folgenschweren Wörter. Er lastet auf dem, für den Scham empfunden wird, und gebietet den sofortigen Rücktritt.

Zusammenhalten

Nakasone schämt sich nicht. Er pocht auf ein anderes Grundprinzip japanischer Mentalität, dem „giri“, dem gegenseitigen Verantwortungs- und Verpflichtungsgefühl. Auf der Wahlkampfbühne stirbt nicht nur die Schwester, der Sohn bricht dort in Tränen aus, die Ehefrau betet, und die Tochter kniet vor dem Vater. Der bewahrt vor 5.000 Anhängern in der großen Messehalle von Takasaki Haltung, reckt die Faust und brüllt: „Unsere Familie hält zusammen. Wir sind die Opfer eines dunklen Journalismus. Wir alle in Takasaki halten zusammen.“

Zwischen Scham und „giri“ entscheidet sich am Sonntag die Wahl, falls es denn genug Wähler gibt, die überhaupt die Wahl haben. Sie werden von Berufs- und Genossenschaftsverbänden für die Wahl eingeteilt. Die Bauern für Nakasone, die Bauarbeiter für Shiraichi. Den Gewerkschaftsmitgliedern wird zudem genau befohlen, wer von ihnen für Shiraichi und wer für den Sozialisten Yamaguchi stimmen soll.

Wo und wann nur endet die demokratische Höflichkeit von Nippons Wählern?