Sayonara A Arbeitswut

■ Das Klischee sitzt tief: In Japan wird nur gearbeitet und geackert. Freizeit ist ein Fremdwort. Aber auch Japaner müssen mal entspannen und ergreifen deshalb jede Gelegenheit zur Ruhe.

Von

CHIKAKO YAMAMOTO und

GEORG BLUME

er Kotatsu ist ein einfacher, kleiner Tisch. Im Arbeitstaat Japan gehörte er eigentlich in den Antiquitätenladen. Statt dessen erfreut sich das alte Möbelstück einer ungebrochenen Popularität. Der Grund dafür liegt auf der Hand: Der Kotatsu verschafft Millionen Japanern an jedem kühlen Winterabend das Recht auf Faulheit. Das geschieht auf einfache Art. Die Platte läßt sich vom niedrigen Tischgestell abheben; dann werden Decken, die bis auf den Boden reichen, über das Gestell gebreitet und die Platte erneut befestigt. Unter der Kotatsu-Platte brennt eine Wärmelampe, die den Raum unter dem Tisch heizt. Wer nun die Beine durch die Decken unter den Tisch streckt, der hat mit der Arbeit nichts mehr im Sinn. Denn der Kotatsu zwingt zum autogenen Training. Die Beine werden heiß und stark durchblutet und der Kopf wird leer. Manche Japaner finden das so schön, daß sie für den Kotatsu gerne auf die moderne Zentralheizung verzichten. Kleine Fluchten der angeblich so bienenfleißigen Japaner.

Bauer Junji Onodera sitzt am Kotatsu und überlegt. Wenn die Beine unten warm sind und die Luft oben kalt, dann sprudeln die Ideen langsamer. Bauer Junji ist 32 Jahre alt und besitzt einen kleinen Bauernhof mit vier Hektar Land auf Japans nördlicher Insel Hokkaido. Der Winter in Hokkaido ist lang und kalt, draußen liegt Schnee, und zum Faulenzen am Kotatsu bleibt am Abend reichlich Zeit. „Wir Bauern haben nicht immer soviel gearbeitet wie heute“, denkt Junji-san laut. „Früher gab es im Winter nicht viel zu tun, und den Leuten blieb gar nichts anderes übrig, als sich die Zeit mit anderen Dingen zu vertreiben.“ Während er noch spricht, teilt der Bauer die „Blumenkarten“ aus. Das ist ein altes japanisches Kartenspiel, das früher auf den Bauernhöfen viel gespielt wurde. Beim Spiel hält Junji-san ab und zu inne und denkt weiter: „Heute arbeiten viele Bauern auch im Winter in der Fabrik, weil sie hohe Schulden haben und ihre Familie neue Ansprüche stellt. Dann bleibt auch zum Kartenspielen keine Zeit mehr.“ Auf seinem Hof ist das jedoch anders. Junji-san und seine Freundin lieben Ruhe und Natur mindestens ebenso wie ihre Arbeit. Sie haben keine Kinder, verzichten auf viele materielle Dinge und bauen lieber Bio -Reis und Gemüse an.

„Wir haben ja vor einigen Jahren als Entwicklungshelfer in Sri Lanka gearbeitet“, erzählt der Hokkaido-Bauer. „Ich habe immer bewundert, daß die Leute bei schlechtem Wetter dort einfach mit der Arbeit aufhören. Hier in Japan meinen doch viele, die Arbeit soll nie enden.“

ur wenige Japaner sprechen sich so offen gegen die allgegenwärtige Arbeitsmoral aus wie der Bauer Junji Onodera in Hokkaido. Doch der Schein endloser Betriebsamkeit, von Medien und Managern gern verbreitet, täuscht. Es wird längst nicht soviel gearbeitet, wie es scheint. Japaner verstehen es durchaus, sich kleine Pausen zu verschaffen. In den Siedlungsvierteln von Tokio stören den Fußgänger oft parkende Autos mit laufenden Motoren. Drinnen sitzen Geschäftsmänner ausgestreckt auf dem Fahrersitz und halten ein gesundes Mittagsschläfchen. Noch deutlicher macht sich das in den vielen Cafes in der japanischen Hauptstadt bemerkbar. Davon gibt es in Tokio nicht weniger als in Rom oder Paris. Mit einem Unterschied: Sie sind immer, gleich zu welcher Tageszeit, mit Gästen voll besetzt. Kein Sturmandrang zur Mittagspause, sondern ständiger Andrang. Tokioter Angestellte haben eben öfters Zeit, mit den Kollegen Kaffee zu trinken. Das nützt dem Betriebsklima und hat doch etwas mit Entspannung zu tun.

Die Faulheit kleidet sich in Japan in die verschiedensten Gewänder, und das schönste von ihnen ist zweifellos das Zen -Gewand. Wem käme es in den Sinn, die hohe Zen-Kunst, die wahre Fähigkeit zur Entspannung und Entsagung vom Weltlich -Materiellen in die Nähe banaler Faulheit zu rücken? Doch gerade deshalb ist es oft so angenehm, in Japan dem Nichtstun zu frönen. In der Badewanne zum Beispiel, oder noch besser: im Onsen, dem Bad in der heißen Quelle. Dorthin pilgern die Manager am Wochenende. Und im warmen Wasser vergehen schnell die unbequemen Gedanken. Der hochverehrte Onsen-Kult erinnert in seiner Wirkung ein wenig an das einfache Kotatsu-Prinzip. An Werktagen bleibt den Japanern noch das alltägliche Bad in der häuslichen Wanne, eine beliebte Sitte familiärer Toleranz, die jedem Familienmitglied täglich gewährt, unbehelligt eine halbe Stunde im Wasser zu faulenzen.

s läßt sich allerdings nicht leugnen, daß Faulsein in Japan teuer ist. Nur die Betuchteren können es sich leisten. Denn wer als Tokioter Angestellter an einer schicken Bar seinen Drink schlürft, wer zu Hause seine Wanne hat, statt mit dem überfüllten öffentlichen Bad vorlieb zu nehmen, wer sich gar leisten kann, einmal im Jahr eine heiße Quelle zu besuchen, der gehört ohne Zweifel zu Japans Privilegierten. Den Millionen Tagelöhnern, die immer noch über die Hälfte vom variablen Kapital im Land stellen, den meisten Fabrikarbeitern der großen Firmen bleibt bis heute oft nur der Kotatsu, dieser bescheidene, aber wirksame Tisch, um Entspannung von der harten Arbeit zu finden.

Der Zen-Tradition ist es zu verdanken, auch im modernen Leben dem Arbeitsstreß zu entfliehen.So ergab unlängst eine soziologische Studie des „Nippon Research Center“, daß japanische Angestellte ihren oft stundenlangen Weg zur Arbeit in Bus und Bahn teilweise „als Möglichkeit zum Lesen, Denken und Alleinsein in einer Gesellschaft betrachten, in der sonst die Kommunikation in Gruppen überwiegt“.

ermutlich wäre Japan mit seiner Zen-Tradition geradezu zum Reich der Faulheit auf Erden gediehen, hätte sich nicht ein frustrierter Samurai-Krieger mit dem Namen Shosan Suzuki im 17.Jahrhundert entschlossen, seine Waffen niederzulegen, um aus dem Zen-Buddhismus seiner Zeit eine neue Arbeitslehre zu erdichten. Shosan Suzuki gilt in Nippons Religionswissenschaft als „Vater des japanischen Kapitalismus“. Der Mann kam auf den verrückten Gedanken, nicht nur in der Askese der Tempelmönche, sondern in einer jeden täglichen Arbeit die buddhistische Praxis zu sehen. „Es ist sehr wichtig, für die Seligkeit nach dem Tode zu beten, aber ich bin Tag für Tag mit der Arbeit auf dem Felde beschäftigt. Wenn ich dieser niedrigen Tätigkeit nachgehe (...), wie kann ich die Buddhaschaft erlangen?“ Derart ließ sich Meister Suzuki von einem Bauern befragen und antwortete: „Arbeite in Hitze und Kälte (...) Bestelle dein Feld gewissenhaft, als müßtest du Buße tun. Freie Zeit läßt nur die bösen Eigenschaften wachsen: Wer sich in harte Arbeit stürzt und keine Mühe scheut, der wird niemals von bösen Leidenschaften heimgesucht werden. So kann er denn unablässig Buddhismus üben.“ Das also haben Nippons Herrschende in den darauffolgenden Jahrhunderten ihre Untertanen gelehrt. „Warum sollte ein Bauer wünschen, außerhalb seiner Arbeit Buddhismus zu leben“, läßt Meister Suzuki wissen. Diesem Glauben paßten sich Japans moderne Kapitalisten an und schufen kurzerhand die Freizeit ab.

Nur am Kotatsu ist die Faulheit für alle Japaner legitimiert. „Obwohl ich in Japan niemals den Eindruck erwecken darf, nichts zu tun“, denkt Junji Onodera, der Bauer aus Hokkaido, zu Ende. Dann gießt er Reiswein nach und teilt ein weiteres Mal die Blumenkarten aus.