„ALSO, BESTIMMTE DINGE... WAREN EINFACH VERBOTEN“

■ Interview mit der Komponistin Ruth Zechlin

taz: Wie haben sich die politischen Veränderungen in der DDR seit dem 9. November auf Ihr Leben und Ihre Arbeit ausgewirkt?

Ruth Zechlin: Die Frage ist kompliziert zu beantworten. Ich brauchte zum Glück bei der Wende für mich keine Wende zu vollziehen, weil ich nämlich immer so gedacht habe wie man jetzt zu denken pflegt. Natürlich belastet mich, was diesem Lande widerfährt, am meisten, daß sehr viele, die vorher emsige SED-Genossen waren, jetzt so tun, als wären sie es nie gewesen. Das finde ich moralisch ganz schrecklich. Ganz schlimm ist die wirtschaftliche und medizinische Situation. Mit der Kunst ist es gar nicht so schlimm, denn wenn man produktiv ist, arbeitet man immer, auch in Krisensituationen. Ich habe sehr oft in Krisensituationen arbeiten müssen, da ich eben nicht konform war mit diesem Staat. Ich habe mich sofort nach der Wende zu Wort gemeldet, vor allem mit künstlerischen Mitteln. Bei der berühmten Veranstaltung in der Erlöserkirche habe ich mitgewirkt, wo auch Christa Wolf, Stefan Heym und Volker Braun und viele Freunde mitgewirkt haben. Ich hatte zu diesem Anlaß ein Orgelstück komponiert, daß heißt „Wider den Schlaf der Vernunft“, ein sehr aggressives Stück, um aufzurütteln und zu mahnen, das man jetzt hellwach sein muß, damit das Ganze jetzt nicht wieder in die falsche Richtung läuft. Dann habe ich kurz vor Weihnachten an einer Veranstaltung im Berliner Ensemble teilgenommen, die dem Antifaschismus gewidmet war und drei Texte von dem leider bei uns vertriebenen Ernst Bloch vertont. Das waren zwei Aphorismen, die mir fremd waren und eine Textpassage aus dem Vorwort vom „Prinzip Hoffnung“. Das waren alles Texte, die so klingen, als hätte er sie jetzt für unsere Wende geschrieben.

Sie waren nie in der SED und haben dennoch nie größere Schwierigkeiten gehabt. Sie haben alle wichtigen Preise erhalten...

... und bin vor allem Mitglied der Akademie und habe eine ordentliche Professur für Komposition. Aber ich habe trotzdem auf vieles verzichten müssen. Ich durfte eben nicht reisen, ich durfte das Land überhaupt nicht verlassen. Es gab zum Beispiel einmal in der West-Berliner Philharmonie eine Uraufführung einer meiner Kompositionen und ich durfte nicht hin, nicht mal zur Generalprobe. Irgendwann konnte ich dann an Reisen, die der Komponistenverband durchführte, teilnehmen. Das waren dann sogenannte „Delegationsreisen“. Aber das waren eben nicht die Reisen, die mich interessierten. Ich wollte zum Beispiel nach Halle in Westfalen, da gabs nämlich Ruth Zechlin-Tage und ich durfte nicht hin. Also, immer das, was man selbst wollte, das gelang mir nicht. Daß ich nie große Schwierigkeiten hatte, liegt natürlich daran, daß Musik weitestgehend unkonkret ist, ganz klar.

Wie ist denn die Haltung Ihrer Kollegen und Kolleginnen vor der Wende gewesen?

Es gibt sehr viele, die sich der Opposition angeschlossen haben, das sind die, mit denen ich ohnehin schon immer befreundet war, Georg Katzer, der Goldmann, der Vogtländer, alles Menschen, die auch so dachten wie ich. Wir brauchten uns eben nicht zu ändern und sind dieselben geblieben.

Es gab in den fünfziger Jahren die sogenannte Formalismusdebatte, daß heißt inhaltliche und formale Vorgaben, wie sozialistische Kunst, sozialistischer Realismus auszusehen hat. Wie hat sich diese Ideologie auf Ihre Arbeit ausgewirkt?

Die fünfziger Jahre waren sehr, sehr kompliziert, weil von staatlicher Seite sehr stark reglementiert wurde. Eine wichtige Rolle spielte damals eine Gruppe, die man heute als stalinistisch bezeichnen würde. Das war eine Gruppe von Musikwissenschaftlern, deren Name ich nicht näher benennen möchte. Es war einfach so, daß gewisse Dinge von vorneherein ausgeschlossen wurden. Der ganze Schönberg-Kreis war als spätbürgerlich-dekadent verschrien und war insofern für uns indiskutabel. Ich fing damals blutjung, im Alter von 24 Jahren an der Hochschule an zu unterrichten. Viele meiner Kollegen waren ganz jung, denn die ältere Generation war im Krieg gefallen, so daß wir einfach eingesetzt werden mußten. Im Gegensatz zu meinem lieben Freund Hans Werner Henze, der damals zur gleichen Zeit in Darmstadt über Leibowitz und Fortner alles erfuhr, was es überhaupt an Kunstmöglichkeiten, Kompositionstechniken vor der barbarischen Naziherrschaft gegeben hatte. Das haben wir gar nicht zu erfahren bekommen, weil man das nicht wollte.

Also vergleichbar mit der lange verhinderten Rezeption westeuropäischer Kunstströmungen, wie zum Beispiel dem Surrealismus?

Ja, genau. Das kann man damit vergleichen. Also, bestimmte Dinge waren einfach verboten. Ich habe damals meine ersten Studenten - Georg Katzer, Wenzel, Berthold - bewußt mit moderner Musik in Verbindung gebracht, nachdem ich mir dieses Wissen heimlich angeeignet hatte. Ich bekam deswegen ziemliche Schwierigkeiten. Ich wurde vor den Rat der Götter zitiert.

Welchen Rat der Götter meinen Sie?

Ich meine den Zentralvorstand des Komponistenverbandes. Die haben mir das sehr übel genommen und meinten, sie würden sich das „merken“, daß ich so etwas gemacht hätte. Ich betonte, daß ich es für richtig hielt, die Studenten zum Beispiel mit Strawinsky zu impfen. Auch das wurde mir sehr übelgenommen, weil Strawinsky gerade etwas gegen die Sowjetunion gesagt hatte. Die Angst, daß wir ins „spätbürgerlich-dekadente“ abgleiten könnten, stand über allem. Ich glaube auch, daß die Leute, die damals das Sagen hatten, gar nicht das Gefühl hatten für diese neue Art des Kunstmachens und des Komponierens. Ich hatte auch einmal wegen einer Biennale in Berlin große Schwierigkeiten. Eigentlich sollte von Luigi Nono ein Konzert gegeben werden, dann hat irgendwas mit den Noten nicht geklappt und man griff auf meine 2. Sinfonie zurück. In West-Berlin erschien von Heinz Stuckenschmidt eine blendende Kritik, in der es hieß: „die nonkonfomistische Haltung der Partitur ließ aufhorchen“. Als ich dann wieder vor den Rat der Götter gerufen wurde, da schenkte man dieses Zettelchen schon hin und her. Ich bekam ganz große Schwierigkeiten, weil man mir vorwarf, ich hätte dem Feind Einlaß gewährt. Ich konnte ja nichts dafür, daß Herr Stuckenschmidt im Konzert saß. So hart war das damals. Was eben damals unter sozialistischem Realismus in der Musik verstanden wurde, das war eigentlich zum Nachpfeifen. Und dann die Texte, noch 'ne Stalinkantate und noch 'ne Stalinkantate. Das war so das, was in der DDR passierte. Ich hatte eben das Glück, daß ich die richtigen Freunde fand: Hans Werner Henze, später Lutoslawski Penderecki. Diese Freundschaften haben mir ungeheuren Mut gemacht. Ich kam hier ja gar nicht raus.

Waren Ihre Brecht-Lektüren und -Vertonungen ein Muß oder ein Interesse?

Meine Beschäftigung mit Brecht ging auf die Liebe zu seinen Texten zurück. Ich fand sie himmlisch und liebe sie heute noch. Das Berliner Ensemble war für uns das Attraktivste, was an neuer Kunst möglich war.

In Ihrem Buch „Situationen, Reflexionen“ kommen Sie oft auf Pierre Boulez‘ „Musikdenken heute“ aus den sechziger Jahren zu sprechen. Haben Sie dieses Buch heimlich gelesen?

Ich habe es vor allem heimlich gekriegt, das wurde in einen Volkswagen eingeschweißt und über die Grenze gebracht. Ich habe es studiert und vorsichtig weitergegeben. Ich bin sehr froh, daß meine Studenten diese blöden Schwierigkeiten heute nicht mehr haben, sondern daß ihnen die Welt offensteht. Ich weiß übrigens nicht, ob mir dieser Weg, was Kompositionstechniken betrifft, so geschadet hat. Vielleicht sind Widerstände für die Produktion gar nicht so schlecht. Wenn ich bedenke, was für große Werke in der Emigration entstanden sind, von Thomas Mann, Werfel, von Feuchtwanger, von Zweig, also die schlechtesten Dinge sind es nicht. Die haben ja auch im Widerstand, im Widerspruch gelebt. Wir mußten einfach über jede Note, die wir schrieben, uns Rechenschaft ablegen. Vielmehr, als wenn uns alles zur Verfügung gestanden hätte. Aber die Belastungen in den fünfziger Jahren gingen so weit, daß wir uns bei jeder Note überlegten: „Darf man das noch, wird das Stück hier je gespielt werden“. Die Jüngeren war da etwas mutiger, zum Beispiel Friedrich Goldmann. Der ist heimlich nach Darmstadt gefahren und besuchte dort Kurse. Ich konnte das nicht, weil ich staatlich angestellt war. Deswegen ist er viel schneller zur modernen Musik gekommen als ich. Man muß auch bedenken, daß ich eine halbe Generation über ihm bin. Die Generation über mir wiederum, also Paul Dessau und Eisler, die kannten ja Schönbergs Schreibweise. Und meine Schüler kennen sie auch wieder, aber ich kannte sie nicht, denn ich bin ohne sie aufgewachsen. Meine ganze Jugend verlief in der Nazizeit, ohne das Wissen dieser Kunst. Moderne Musiker wie Schönberg waren ja rassisch verfemt. Aber genau diese Generation: ich, Hans Werner Henze, Pierre Boulez, die hat das alles durchmachen müssen.

Ihre kompositorischen Anfangsjahre sind sehr stark geprägt durch Bach. Wie kann man nun diese drei Einflußgrößen Bach, Henze und Boulez zusammendenken?

Also, diese ganzen Techniken bekommt man zusammen, wenn man die Musikgeschichte kennt und die Musikgeschichte auch als eine Geschichte der Kompositionstechniken begreift. Das heißt, alles geschieht im Geschichtskanon, alles ist Entwicklung. Die Wurzeln der seriellen Techniken und die von Schönberg, die ja dominant polyphon und nicht dominant homophon sind, gehen direkt auf Bach zurück. Das ist also gar kein großer Schritt. Es ist richtig, daß ich von Bach her komme und ihn immer als mein Zentrum bezeichnet habe. Von Bach ausgehend, habe ich mir alles erobert, was nach ihm kam. Beim Komponieren ist es auch so, daß vieles bereits im Unterbewußtsein eingegangen ist, dort verschwindet. Wenn ich dann neue Dinge schreibe, ist dieses „Verschwundene“ plötzlich da. Als Komponist denkt man außerdem nicht in Schubläden. Es entwickelt sich ja ein eigener Stil und ich denke beim Komponieren weder an Bach noch an Henze. Überhaupt nicht.

Sie haben immer betont, daß außerliterarische Einflüsse für Sie eine große Rolle spielen. Ganz verschiedene Texte - von der Antike bis zur DDR-Gegenwartsliteratur - haben Sie vertont, unter anderem hat Ingeborg Bachmanns „Malina“ für Sie eine große Bedeutung. Sie sprechen sogar von einer Identifizierung mit den psychischen Zuständen der Ich -Erzählerin. Für mich steht das in gewissem Widerspruch zu Ihrer oft geäußerten Meinung, in der DDR herrsche volle Gleichberechtigung, es gäbe keinerlei Behinderungen und gesellschaftlich bedingte Schwierigkeiten zwischen den Geschlechtern. Was berührt Sie dann an „Malina“, ein Text der Gewalt, der das psychische Gefälle zwischen Mann und Frau in den Vordergrund rückt und gleich zu Anfang sagt: „Ich war allerdings von Anfang an unter ihn gestellt“?

Das ist eine sehr reizvolle Frage. Ich bin gegen jeden Feminismus eingestellt, weil ich jedes Ghettodenken entsetzlich finde. Im Westen habe ich solche Tagungen und Diskussionen miterlebt. Da waren nur Komponistinnen zusammen, und ich hatte immer das ungute Gefühl, das es wichtiger war, eine Frau zu sein als daß die Musik wertvoll ist. Das finde ich entsetzlich und solche Gruppierungen, die sich selbst ausgrenzen, auch. Deswegen messe ich mich lieber mit Männern, weil die natürlich als Komponisten hervorragend sind. Mir ist es wichtiger, mit denen gleich gut zu sein. Ich akzeptiere mittlerweile sehr viele Frauen bei Ihnen im Westen, zum Beispiel die Hölzki. Es ist klar, daß mir solche Frauen sehr nahe stehen. Was „Malina“ betrifft. Vielleicht ist es nicht dieser zitierte Satz, der mir der wichtigste ist, sondern diese vielen psychischen Befindlichkeiten. Die sind für mich nicht mit der Gleichberechtigung und der Frage der Geschlechter verbunden, sondern mehr mit dem psychischen Mann-Frau-Bild. Und da hat es Dinge gegeben, die ich auch so erlebt habe wie die Bachmann.

Aber zu sagen, die Musikgeschichtsschreibung hat viele Komponistinnen unter den Tisch gekehrt, hat doch nichts mit einem Ghettogedanken zu tun. Das erste Treffen von Komponistinnen aus dem Jahr 1982, auf das Sie kurz angespielt haben, versammelte sehr gute Musikerinnen, die gegen dieses Verschwinden von Kultur in Geschichte und Gegenwart etwas tun wollten. Die theoretischen Arbeiten zum Beispiel von Eva Weismüller und Eva Reiger waren wichtige Beiträge, um eine Art Gesamtaufarbeitung der Musikgeschichte zu leisten. Sind die Männer wirklich die besseren Komponisten?

Ich traf einfach zufällig Männer, Musiker, mit denen ich mich anfreundete. Damals waren die Frauen auch noch nicht so weit. Vielleicht ist auch dies eine Frage der Generation.

Seit dem 9. November gibt es in der DDR zunehmend Frauen, die sich autonom organisieren oder aber innerhalb von Parteien und Oppositionsgruppen die Frauenfrage diskutieren. Interessiert Sie die politische Arbeit dieser verschiedenen Frauengruppen?

Ich habe mit den Frauen wenig im Sinn. Aber ich freue mich über jede Frau, die sich - in welcher Oppositionsgruppe auch immer - engagiert. Ich bewundere viele kluge Frauen, die zur Zeit wie Pilze aus dem Boden schießen. Ich frage mich wirklich, wo sie das gelernt haben, so zu denken und zu sprechen. Vor diesen Frauen habe ich den höchsten Respekt. Ansonsten fühle ich mich der Opposition im allgemeinen zugehörig, aber im Moment kann ich Ihnen nicht sagen, zu welcher Gruppe, weil sich täglich etwas ändert.

Es gab kürzlich eine deutsch-deutsche Opernkonferenz, es ist abzusehen, daß die großen Bühnen in der DDR und der BRD längerfristig zusammenarbeiten werden. Welche neuen Möglichkeiten sind für Sie und Ihre Kollegen und Kolleginnen durch die Öffnung der Grenzen entstanden?

Ja, wenn ich das schon wüßte, wäre ich schon glücklich. Ich beende zur Zeit meine Oper, die 1991 in Cottbus uraufgeführt werden soll. Sie heißt „Die Salamanderin und die Bildsäule“ nach Christoph Martin Wieland. Dieter Reuscher, ein ehemaliger Kontrapunktschüler von mir, der beim Libretto dieser Oper auch als Dramaturg mitgewirkt hat, wird die Regie übernehmen. So Gott will, kommt sie dann nach Münster. Inwieweit die West-Berliner Bühnen uns aufnehmen, wage ich nicht zu sagen. Ich glaube immer noch an die Güte eines Kunstwerks. Ich glaube daran, daß sich gute Kunst einfach durchsetzt, wenn auch nicht immer sofort.

Interview: Gabriele Mittag