Hintertür ins Jenseits

■ Zur großen Retrospektive des Surrealismus in Frankfurt

Mathias Bröckers

So ganz als Randfigur wollte man den populärsten surrealistischen Künstler, Salvador Dali, doch nicht stehen lassen - deshalb sind in der Frankfurter Ausstellung neben einem Bild und ein paar Zeichnungen auch noch zwei Skultpuren zu sehen, darunter Dalis berühmte „Venus mit Schubladen“. Daß diese in Mailand, (wo die große Retrospektive „Die Surrealisten“ zuerst gezeigt wurde) noch nicht dabei war, hat mit dem spiritus rector der Ausstellung, Arturo Schwarz, zu tun. Denn für den Galeristen, Künstler und Wegbegleiter vieler Surrealisten ist Dali nur eine „ephemere Randerscheinung dieser Bewegung“ - eine Einschätzung, die nicht ästhetischen, sondern politischen Kategorien geschuldet ist: Für Arturo Schwarz hat Dali den revolutionären Geist des Surrealismus verraten, weil er mit der Monarchie und dem Faschismus kokettierte. Doch nicht nur das surreale Interesse, das der exzentrische Spanier 1934 einer Figur wie Hitler entgegenbrachte, ging dem Chef-Ideologen der Surrealisten Andre Breton zu weit, zum Ausschluß Dalis aus der Gruppe führte vor allem die hemmungslose Art, in der er auf dem neu entdeckten Feld der Surrealität, der Landschaft zwischen Traum und Wirklichkeit, mit Kot, Urin und Perversion wütete.

Nicht nur in der Inszenierung moderner Mythen, auch in der radikalen künstlerischen Umsetzung der Entdeckungen Sigmund Freuds ging Dali weiter als die meisten seiner Kollegen. Nicht ganz zu Unrecht nahm er für sich in Anspruch, mit seinen Bildern und Filmen das surreale Objekt gegen die Traumberichte und das automatische Schreiben durchgesetzt zu haben - und traf damit den Kern der Gruppe um Breton, der zum größten Teil aus Schriftstellern bestand und den „Aufstand gegen die Logik“ mit diesen schriftlichen Techniken führte. Dali ist mit Sicherheit weit weniger „epehmer“ als etwa die regionalen Ausläufer des Surrealismus in England, den USA oder Skandinavien, die in der Ausstellung großzügig präsentiert werden; sie mögen nahezu unbekannt und schon deswegen interessant sein, doch wer wie Arturo Schwarz eine derart globale Bedeutungsgeschichte dokumentiert, der sollte auch die Geschichte der Niederlagen nicht verschweigen. Und die zeigt sich gerade an diesem „kritischen Paranoiker“ Dali, der die Surrealisten mit ihren eigenen Waffen schlug, indem er die Freiheit der Phantasie auf die Spitze trieb - und sich zum schrillen Snob des Jet -Set herunterwirtschaftete.

An derlei Niedergang der „grundsätzlichen Subversion“, die Breton im ersten Manifest der Surrealisten 1924 ausgerufen hatte, zeigen das Konzept der Ausstellung wie der umfangreiche Essay von Arturo Schwarz (im Katalog) wenig Interesse - es ist eine Erfolgsstory von Revolution, Liebe und Abenteuer und eine Hommage an den Inspirator und Wortführer der Surrealisten Andre Breton. Sie verliert kein Wort darüber, daß auch Bretons Konzept einer revolutionären Lebens - und Kunst-Form als politische Waffe stumpf blieb, und letztlich zum Deko-Artikel der Bourgeoisie schrumpfte.

Dem Katalogessay ist sehr daran gelegen, die sauber durchgehaltene kommunistische Linie Bretons, die Abkehr von Stalinisten wie Eluard und Aragon, zu dokumentieren, nicht aber die Kehrseite dieser Linientreue, wie sie etwa in der Kritik des frühen Mitstreiters Antonin Artaud am „surrealistischen Bluff“ deutlich wird. Für ihn waren die Leute um Breton die „Honigsauger der kommunistischen Revolution. Die Idee der Revolution wird für sie immer nur eine Idee sein, ohne daß diese Idee kraft ihres Alterns auch nur den Schatten einer Wirkung zeigt.“ Und auch Leo Trotzki, für dessen „permanente Revolution“ sich Breton begeisterte und den er im mexikanischen Exil besuchte, war das Schwärmerische im politischen Engagement des Surrealisten -Chefs nicht ganz geheuer: „Ich bin mir nicht sicher, ob Sie sich nicht doch ein Hintertürchen ins Jenseits offen halten wollen.“

Diese Schwärmereien zeigt die Ausstellung in einer surrealistischen „Wunderkammer“, mit Bildern, Büchern und Objekten, die für Breton das Wunderbare und Mystische und die Faszination der Alchemie, der Vereinigung der Gegensätze, repräsentierten: Blake, Bosch und Dürer neben Hopi-Figuren und einem ausgestopften Ameisenbär, Duchamps Fahrradfelge neben Höhlenzeichnungen der Steinzeit, Pflanzen, Kristallen und ... einem Rembrandt. Mittendrin und in dieser irren Mischung leicht zu übersehen de Chiricos „Melancholia“ - ganz so, als ob die metaphysische Malerei des Italieners gleichfalls eine Randerscheinung des Surrealismus darstelle.

Das mag für den Nicht-Maler Breton gelten, dessen Kunst sich abgesehen von wenigen Objekten im Schriftlichen erschöpfte, auf die surrealistischen Maler hingegen hatten de Chiricos Bilder großen Einfluß. Daß sie in dieser Retrospektive keine Rolle spielen, liegt an ihrer strengen Auswahl: In der ersten Abteilung sind nur Werke von Künstlern vertreten, die Breton in der Erstausgabe seines Buchs „Der Surrealismus und die Malerei“ (1928) besprochen hatte oder die an der ersten Gruppenausstellung 1925 teilnahmen: Pierre Roy, Arp, Max Ernst, Man Ray, Miro, Masson, Fraenkel und Tanguy.

In den folgenden Abteilungen werden Arbeiten gezeigt, die auf den Gruppenausstellungen zwischen 1928 und 1945 vertreten waren, u. a. von Bellmer, Brauner, Giacometti, Oelze, Seligmann und dem Deutschen Wolfgang Paalen, sowie von drei Frauen: Meret Oppenheim, Leonora Carrington und Dorah Maar. Es folgen Werke aus der Nachkriegszeit, die Breton in der letzten Ausgabe seines Buchs 1965 würdigte und die die internationale Ausbreitung der surrealistischen Malerei dokumentieren: von filigranen Zeichnungen Unica Zürns, über die Phantastik eines Friedrich-Schröder Sonnerstern bis zu den Maschinen Konrad Klaphecks.

Hier, in den 60er Jahren und mit dem Tod von Breton, endet das Spektrum dieser großen Ausstellung, in der kein berühmter Name fehlt und viele unbekannte zu entdecken sind, die aber in ihrer Gewichtung gar zu sehr auf das Denken und den Geschmack des surrealistischen „Vereinsmeiers“ Breton zugeschnitten scheint. Und die Vorläufer sowie die Folgen ignoriert: der starken Einfluß der Dadaisten wird als bloße Provo-Manier heruntergespielt, um den Surrealismus zur seriösen revolutionären Strategie zu erklären, die dann mit ihrem genialischen Chefideologen auch zu Ende gehen muß statt sie, der kunsthistorischen Wahrheit zuliebe, bei Warhol und der Werbeindustrie landen zu lassen. Mit einem Körnchen Wehmut betrachtet, statt mit der linientreuen Euphorie des Ausstellungsmachers, ist diese dritte Reptrospektive des Surrealismus in Deutschland (1972 in München und 1974 in Düsseldorf gab es zwei große Überblicksausstelungen) ein großer Gewinn: kein Versuch, Leben mit Kunst zu revolutionieren (und umgekehrt), ist in diesem Jahrundert so wunderbar und mit so vielen Fluchtpunkten gescheitert, wie der Surrealismus. Und folgt man Andre Breton, ist der Surrealismus noch längst nicht tot, hat er doch „nicht die mindeste Aussicht, an sein Ziel zu gelangen, so lange der Mensch noch ein Tier von einer Flamme oder einem Stein zu unterscheiden vermag.“

Bis zum 18.1., Kunsthalle Schirn Franfurt. Der Katalog (425 Seiten), mit umfangreicher Dokumentation aller surrealistischen Ausstellungen und Zeitschriften, kostet 49 DM.