„Wir halten offen, solange gekauft wird“

In der Helmstedt ist der Teufel los / Verkehrsprobleme auf der Zahlstelle / Wechselkurs für Ost-Mark: eins zu zehn / Das Begrüßungsgeld wird sofort wieder ausgegeben / Schaulustige behindern Grenzübergang  ■  Von Petra Schrott

Helmstedt (taz) - Vor 18 Stunden hat die alte Frau aus Bitterfeld sich auf den Weg gemacht. Die Stimmung im Stau sei prächtig gewesen. Im Helmstedter Rathaus wartet sie mit glühenden Wangen auf ihr Begrüßungsgeld. Wie in einer Bank geht es in dem zur Zahlstelle umfunktionierten Mehrzweckraum zu. „Das ist schon beschämend. Wir kriegen 100 Westmark, und ihr müßt blechen“, sagt die Alte.

„Rechts blockieren, links öffnen“, schreit ein Organisator auf dem Flur. Der menschliche Wegweiser am Eingang ändert seine Winkrichtung, und die Hereinströmenden folgen seinen Anweisungen. Amtsleiter Nieter ist begeistert, wie gut alles funktioniert. „Ein Rekord in der Geschichte unserer Stadt. Auf jeden Einwohner kommt schon jetzt ein Ost-Besucher.“ 1,6 Millionen Hundertmarkscheine wurden schon verteilt. „Morgen können sie auf dem Markt mit Obst und Südfrüchten ausgegeben werden“, sagt Nieter.

„Kochlöffel“ und andere Imbißstuben stillen den Nachthunger. Witzeln über den ersten Döner. „Soviel Knoblauch. Da brauchen wir an der Grenze nichts mehr sagen.“

Über die trainierte Brust spannt sich der deutsche Adler auf dem schwarz-rot-goldenen T-Shirt. Der Träger, ein Jüngling aus Duisburg, schart die DDR-Jugend um sich. Rene kam, um sich eine Flagge zu kaufen, „aber hier ist ja Provinz, genau wie in der DDR. Ich wollte die DDR-Fahne und eure Flagge übereinanderlegen. Bald sind wir wieder eine Wirtschaftsmacht, und dann können alle anderen einpacken, abziehen. Hähähä.“

Helmstedts Einkaufsstraße heißt Marktstraße. „Wechselkurs für Ost-Mark 1:10“, peppt an den Schaufenstern. Im Drogeriemarkt sind Süßigkeiten und Seife ausverkauft. Viele Läden in der überfüllten Fußgängerzone schließen. „Freibier“, ruft eine Boutiquebesitzerin ihren Kunden zu. „Wir halten offen, solange gekauft wird. Wäre doch unhöflich, zu schließen, wenn die einmal da sind.“ Geschäftstüchtig wendet sie sich einigen Männern im Versteigerungston zu. „Die Hose, für wen war die Hose?“

Der Billigladen „Kaufring“ wird nur kurzfristig gesperrt. Drinnen locken die „Greif-zu-Angebote“. Hemden für einen Zehner werden derweil aus dem Kofferraum eines PKWs verkauft. Schlangen vor den Videoläden.

Ein Dickerchen ist deprimiert. „Mensch, jetzt gibt's hier ooch keene Videospiele.“ Platte Nasen am Schaufenster des Juweliers, Entzückensschreie vor „Klamottchen“. Niemand interessiert sich für die Reisen in alle Welt. „Ich bleib noch hier, Mama. Morgen früh um 11 geht's weiter“, ruft einer durchs Telefon nach Magdeburg.

Kilometerweit sind die Zufahrtsstraßen zum Zentrum zugeparkt. 70 Kilometer Stau meldet der Verkehrsfunk. Vor dem Grenzübergang Behinderungen durch westliche Glotzer, die über die Autobahn spazieren. Abgaswolken versperren die Sicht am grell erleuchteten Kontrollpunkt.

Auf der gegenüberliegenden Spur werden die erschöpften Ausreisenden mit heißen Getränken aufgefrischt. Von Hannover, Braunschweig, Wolfsburg ist das Begrüßungskomitee angereist. Hunderte klatschen und johlen, die Wartburg- und Trabbifahrer antworten mit Hupkonzerten. „Super“ kreischt es aus einem Jugendpulk, „Disco ist out, Grenze ist in.“