Vom Tellerwäscher zum Millionär

■ Hoffen auf sagenhaften Reichtum: Goldgräber in London - mit den "Schlammwühlern" an der Themse

Ein alter Londoner sagte eines Tages zu mir: „Ich hole dich morgen früh ab, wir gehen an die Themse, wenn sie Ebbe hat. Ich zeige dir ein Gesicht von London.“

„Wie früh?“ habe ich gefragt. Dabei hätte ich „welches Gesicht“ fragen sollen.

Auf den Themsebrücken in London kann man, wenn man Glück hat, zuschauen, wie Männer im Uferschlamm herumstochern. Man denkt sich eine Geschichte aus, die erklärt, wonach sie suchen. „Krabben!“ dachte ich, und „Wahnsinn, in dem Dreckwasser!“

Nie wäre ich auf die Idee gekommen, daß es eine Wiederholung der Suche nach schon einmal gefundenem Gold gibt. Es wird danach gegraben wie nach dem noch unberührten Gold in den Minen Afrikas oder Nordamerikas. Die Geschichte ist die gleiche, der Ort nicht. Das Gold wird im Schlamm des Themseufers von London gesucht.

Die Themse ist ein Gezeitenfluß. London liegt zwar schon 65 Kilometer vom Meer entfernt, trotzdem steigt und fällt der Wasserspiegel mit Ebbe und Flut noch bis zu fünf Meter. Die Goldgräber von London arbeiten in den zwei Stunden, in denen der Fluß am tiefsten steht. Sie versuchen auf Teufel komm raus, etwas aus dem Boden rauszuholen, von dem sie überzeugt sind, daß es dort verborgen ist.

Da das Themseufer Ende des 19.Jahrhunderts künstlich aufgeschüttet und eine Straße angelegt wurde, kommt man nur über Treppen hinunter zum Fluß. Der Boden, den man betritt, ist grob und porös. Es ist eine braune Schicht aus Erde und Stein, die unerwarteterweise nicht nachgibt. Bei genauerem Hinsehen merkt man, daß man nicht nur auf Steinen, sondern auch auf zerbrochenem Steingut, Tellern, Kacheln, Tonkrügen, Tonpfeifen, wie sie auf den Bildern flämischer Maler abgebildet sind, geht.

Das Ufer ist ein Mosaik, das nicht gelegt wurde, eine 2.000jährige Geschichte der Zivilisation, festgetreten, aufgeschwemmt, Abfall natürlich, Dreck, was sonst? Londons Vergangenheit reicht von vorrömischer Zeit bis in die heutige Glaswelt. Auf diesem Hintergrund arbeiten die Goldgräber. Sie graben das ehemalige Ufer Londiniums und der darauf sich aufbauenden Metropole um und sind auf der Suche nach verlorengegangenen Gegenständen: Münzen, Schmuck, Tonkrüge, Waffen. Jeder der Männer, die im Dreck herumstochern, träumt von der Truhe mit den Goldmünzen oder dem Silberfund aus der Wikingerzeit, den er, der Glückliche, ganz alleine ausgräbt.

Nicht jeder x-beliebige kann an die Themse gehen, um zu graben. Die Goldgräber, deren englische Bezeichnung „mudlarker“ sich etwa mit „Schlammwühler“ übersetzen läßt, brauchen eine Konzession der „Schlammwühlervereinigung“. Fünfzig solcher Konzessionen gibt es nur und deshalb eine entsprechend lange Warteliste. Wer eine Konzession hat, bezahlt dafür 50 englische Pfund im Jahr. Und nur wer der Schlammwühlervereinigung angehört, darf im Themseschlamm graben.

Die Mudlarker graben insbesondere die Gegend zwischen Tower und Southwark Bridge um, wo die Fleet und der Walbrook in die Themse fließen. Beide Flüsse wurden früher als Müllkippen benutzt. Der Walbrook ist heute überteert, die Fleet dient als Verkehrsweg für den An- und Abtransport von Baumaterialien und Schutt aus den abgerissenen alten Hafenvierteln, die heute als Docklands wieder aufgebaut werden. An der unmittelbaren Mündungsstelle des Walbrook in die Themse darf offiziell nicht gegraben werden. Dort, so wird vermutet, liegt noch etliches, das wertvoll ist. Überhaupt müßte alles, was nach unwiederbringlicher Geschichte aussieht, dem Museum of London angeboten werden.

Auf der Suche nach Münzen oder anderen Gegenständen aus Edelmetall benutzen die meisten Mudlarker Metalldetektoren. Die traditionelle Schlammwühlertechnik ist jedoch um einiges arbeitsintensiver und wird nur von denen benutzt, die auch nach nichtmetallenen Gegenständen, etwa Tonkrügen, suchen. Löcher werden mit Pickel und Schaufel im Uferboden gegraben. Die Erde wird dann in Sieben im Themsewasser ausgewaschen. Je tiefer gegraben wird, um so älter die Schätze, denen man sich nähert. Um zu den römischen Schichten zu kommen, muß mindestens zwei Meter tief gegraben werden. Sobald die Themse steigt, werden die Löcher leicht abgedeckt in der Hoffnung, daß der Fluß etwas aus seinem fraglichen Vorrat anschwemmt, das in das gerade gegrabene Loch fällt.

So stehen sie da, die Schlammwühler, in ihren olivgrünen Stiefeln und wasserdichten Jacken, in einem Land, in dem wieder geglaubt wird, daß aus einem Tellerwäscher ein Millionär werden kann.

Die Schlammwühler haben die Gesichter von Bauern, Fischern oder Minenarbeitern. Sie graben mit der besessenen Bescheidenheit, die man braucht, um die Hoffnung auf Reichtum vom Anfang bis zum Ende durchzuhalten. Das Ufer ist schon so oft umgegraben worden, aber die Geschichte geht weiter. Jeder kennt einen Freund, der einen Freund kennt, der in einer einzigen Woche ein2 silberne Magistratskette gefunden hat. Er konnte sie für 20.000 Pfund verkaufen. Ein paar Tage später fand er einen silbernen Gürtel mit Schnalle, den er für 12.000 Pfund loswurde. Nur darum geht es. Es kann kein anderes Ende geben.

Waltraud Schwab