Die Obszönität des Reichtums

■ „Russische Malerei im 19. Jahrhundert“, eine Ausstellung im Kunsthaus Zürich

Arno Widmann

Zürich war im Juni ein Zentrum russischer Kunst und Kultur. Ausstellungen, Konzerte, Oper, Ballett, Theater, Jazz, Literatur und Film. Ein Riesenangebot. Unmöglich, auch nur über einen Bruchteil davon auf zweihundert Zeilen etwas Sinnvolles zu schreiben. Die Leningrader Philharmoniker waren da und die Leningrader Oper, das Bolschoi-Ballett und die „Kreativen Werkstätten Moskau“, das Taganka Theater und das „Theater des jungen Zuschauers“. All das ist vorbei wie auch das Symposium „Traditionen der Moderne in der russischen und sowjetischen Literatur“ mit u.a. Efim Etkind, Andrej Bitow, Alexander Kuschner, Andrej Sinjawskii, Wladimir Woinowitsch. Aber es gibt noch immer mehr als man fassen kann: Plakate im Stil von „Erfüllen wir den Plan großer Arbeiten“ (1930), Rauchgefäße aus Tadschikistan (11. Jahrhundert nach Chr. Geb.), Architektur aus Estland, einen Krug von Kasimir Malewitsch (1918), eine Ausstellung „Anton Tschechow - sein Leben in Bildern und Dokumenten“, die Installation einer Moskauer Kommunalwohnung, Goldschmiedekunst der Jahrhundertwende usw.

Ich möchte auch nicht sprechen von der sehenswerten Ausstellung „Leben im zaristischen Rußland“ oder über die mindestens ebenso interessante zu den „Anfängen des Bildjournalismus in der Sowjetunion“, sondern es geht einzig und allein um ein paar Eindrücke von der Ausstellung im Zürcher Kunsthaus: „Russische Malerei im 19. Jahrhundert“.

Die Ausstellung zeigt hundert Gemälde aus der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts, aus „Realismus, Impressionismus, Symbolismus“ wie der Untertitel erläutert. Zu allererst fallen die Genrebilder auf. Zum Beispiel Fedotows (1815-1852) „Launische Braut“ aus dem Jahre 1847. Im roten Salon ein buckliger Bräutigam, der vor seiner Angebeteten kniet und von ihr ausgelacht wird. Links hinter einem Vorhang die Eltern, die hoffen, daß die Tochter endlich auch ihr Jawort gibt. Eine Theaterszene, spießiger kaum denkbar. Der spitze Witz der an Frankreich geschulten Aristokratie war Fedotows Sache nicht, er hielt es mit dem Humor der neuen Klasse der aufsteigenden kleinen städtischen Beamten. Vergleichbares kennen wir aus der Düsseldorfer Malerschule, wo auch Gesellschaftskritik und anpassungssüchtige Moral eine extrem unerfreuliche Verbindung eingingen. Newrews (1830-1904) zwanzig Jahre später entstandenes Bild „Das Mündel“ gehört ins selbe Genre, erinnert aber, ähnlich wie Pukirews(1832-1890) „Die Mitgift“ von 1873, weniger an Theater als an Szenen aus den „Priwalowschen Millionen“ von Mamin-Sibirjak oder an andere realistische Romane der Zeit. Der goldene Samt der Sesselbezüge, der rote Streifen in der Leutnantshose, der steif glänzende Taft von Mündel und Mama, das sind neben dem doch ans Theater erinnernden Spiel der Blicke die Hauptinteressen des Malers.

Mit dem neuen Reichtum verhält es sich wie mit den Jugendsünden: man genießt sie noch einmal, wenn sie angeprangert werden. Pukirew zeigt einen Bräutigam, der die Liste in der Hand - Kisten und Truhen seiner Braut durchgeht, um zu überprüfen, ob sie auch wirklich die versprochene Mitgift liefern wird. Die Wäsche liegt ordentlich abgezählt auf einem Tisch, der junge Herr nimmt gerade ein Kleid in die Hand und prüft fachmännisch den Stoff. Wahrscheinlich ist das junge Fräulein in rot, das die Szene beobachtet, seine Braut. Die kritische Absicht des Malers ist überdeutlich, aber wir dürfen sicher sein, daß sie den Reiz des Bildes eher noch erhöhte. Schließlich waren auch die Sittenfilme der Nachkrieszeit, in denen das Lotterleben in den Lasterhöhlen der Großstädte gezeigt und angeprangert wurde, für viele auf- und anregender als die straffreie Zügellosigkeit der 70er Jahre. Vielleicht gehorcht die Obszönität des Reichtums ja denselben Spielregeln wie die sexuelle Ausschweifung.

Neben diesen Genrebildern einer von ihrer Wichtigkeit ganz und gar eingenommenen Bourgeoisie gibt es eine Reihe Bilder, wie ich sie aus der deutschen Tradition nicht kenne. Nikolaj Alexandrowitsch Jaroschenko (1846-1898) ist mit vier Bildern vertreten. Eines zeigt einen Studenten, dem man den russischen Revolutionär an der Nasenspitze ansieht. Das Porträt eines der Aufmüpfigen der 80er Jahre des vorigen Jahrhunderts, die malerische Studie eines der Narodniki, die sich damals aufmachten, das Volk zu revolutionieren - mit und ohne Bombe. „Der Gefangene“ zeigt einen schon älteren Mann, der versucht aus seinem Zellenfenster zu schauen. Eineinhalb Meter ist das Bild hoch. Vielleicht wurden auch in Deutschland solche Bilder gemalt. Vielleicht gab es auch bei uns reiche Sozialdemokraten oder Sympathisanten, die solche Bilder kauften, ausgestellt werden sie jedenfalls nicht. Jaroschenko war kein outcast der zaristischen Gesellschaft. Er arbeitete als Militär-Ingenieur für die Armee. Das hinderte ihn offensichtlich nicht daran, als Maler ganz andere Interessen zu kultivieren als die Verteidigung des status quo. In den neunziger Jahren malte er dann stimmungsvolle Landschaftsbilder oder Porträts der auf ihren Sommersitzen die Zeit verstreichen lassenden Angehörigen der herrschenden Klassen. Es sind die müde gewordenen Studenten der 70er Jahre oder ihre von der Illusionslosigkeit der Eltern gelähmten Kinder. Kirschgarten -Atmosphäre.

In Jaroschenkos Bildern gibt es keine Freude mehr am Glanz des Reichtums, keine Lust an der Darstellung teurer Stoffe und Materialien wie bei Newrew und Pukirew. Es gibt auch noch keinen impressionistischen Farbenrausch. Jaroschenkos Figuren stehen im Dunkel. Die Gesichter heben sich, von klar bestimmbaren Lichtquellen beleuchtet, aus einem Courbetschen Braungemenge heraus. Die Welt ist finster. Einzig ein paar Gedanken bringen etwas Licht hinein.

Wer von russischer Malerei Ahnung hat, wird wahrscheinlich andere Entdeckungen machen, wird sich vielleicht Serows (1865-1911) eleganten Porträts von I.I. Lewitan und Rimskij -Korsakow zuwenden oder den bizarren Versuchen Rörichs (1874 -1947), die russische Archaik durch wie in Batik gearbeitete Wikingerbilder wiederzubeleben, einigen Reiz abgewinnen. Meine Entdeckung dieser Ausstellung sind die Bilder von Archip Iwanowitsch Kuindshi (1842-1910). Landschaftsbilder. „Mondflecken im Wald“ heißt eines. Ein Bild so unverständlich wie sein Titel: Eine grün beleuchtete Schneelandschaft mit großen schneebedeckten Bäumen, die schon beim zweiten Blick keine mehr sind. Eine Albtraumlandschaft. Kuindshis „Elbrus. Mondnacht“ ist nicht weniger verwirrend. Das Bild wirkt merkwürdig mißglückt: eine über jedes Maß maßlose Eisbombe in einer dunklen Schale. Nichts unwahrscheinlicher als daß es sich um eine reale Landschaft handeln könnte. Ganz ähnlich wirkt der blaue Himmel über seinem „Waldsee“ wie aufgeklebt, angepappt, verunglückt. Wobei ganz und gar undeutlich ist, wobei der Unfall passierte. Was strebte Kuindshi an? Hinter was war er her? Warum zerstört er das Bild, seine Einheit, seine Stimmung? Es handelt sich ganz eindeutig um Zerstörung. Kuindshis „Der Dnjepr am Morgen“ von 1881 zeigt, wie großartig der Maler Landschaftsstimmungen darstellen konnte. Er betrachtet den riesigen Fluß aus der Perspektive eines Käfers: im Vordergrund des Bildes überdimensional groß in die Mitte gesetzt ein paar Gräser, dahinter sich langsam im Dunst des fernen Horizints auflösend die Konturen des Dnjepr und seiner Ufer. Das Gefühl unendlicher Weite hergestellt mit sparsamsten Mitteln. Davon wollte Kuindshi weg. Diese Stimmung fiel ihm zu leicht. Er fing an zu fuhrwerken, klatschte Farben aufeinander, keine kleinteilige Arbeit mehr an Dochten und Blüten, sondern jetzt wurden die Bilder gespachtelt. Aber er blieb seinen Themen treu: Landschaften. Er wollte wohl beides: das Feine, das er beherrschte wie wenige andere, und das grobe Neue, von dem er kaum mehr als eine Ahnung hatte. Seine späten Bilder stellte er nicht mehr aus. Trotzdem wurde er 1892 Professor und 1894 Leiter der Malschule der Akademie der Bildenden Künste in Petersburg.

Russische Malerei im 19. Jahrhundert Realismus Impressionismus Symbolismus, Kunsthaus Zürich, 30. Juli, geöffnet: Mo. 14-17 Uhr, Di.-Fr. 10-21 Uhr, Sa.'So. 10-17 Uhr, Eintritt 8 Schweizer Franken