Schandflecktourismus

■ Flüchtiger Blick auf die Hamburger Hafenstraße

Gabriele Goettle

Die Einfahrt nach Hamburg an Blankenese vorbei durch die Elbchaussee führt feinsinnig vor Augen, daß es auch noch angenehmere Lebensweisen und Unterkünfte gibt als in Kreuzberg oder St.Pauli. In friedhofsgroßen Parkanlagen stehen alte Kastanien, Eichen und Linden so dicht, daß selbst protzigste Villen aus der Gründerzeit nur bescheiden durchs Gehölz schimmern. Hier hat sich fleißige Ausbeutung fremder Arbeitskraft in großzügig hingebreitetem Privateigentum niedergeschlagen. Jedes Haus ein Sanatorium für den überlasteten Geschäftsmann, jeder Park ein Luftkurort, der Ruhe, Entspannung und Versöhnung mit der Natur garantiert. Die Geschichte scheint spurlos an diesen Anwesen vorbeigegangen zu sein, und selbst das unaufhaltsame Baumsterben hat hier offensichtlich keine Chance, den üppigen Eichen die Kronen zu lichten.

In raschem Übergang, gemildert durch öffentliche Parks und alte Straßenbäume, folgen den neueren Appartementhäusern Mietskasernen, große Kreuzungen, Straßenlärm und das Hafenrandgebiet. Hier dominiert eine Mischung aus restaurierten Altbauten, nostalgisch-altertümelnden Neubauten mit diskret postmodernen Andeutungen, verrottenden Mietshäusern und Lagerhallen. Daß im Bezirk ehemals gearbeitet und gewohnt wurde, ist andeutungsweise noch zu erkennen, besonders dann, wenn Plätze und Gebäude zu rein touristischen Zwecken den ehemaligen Arbeitsalltag imitieren sollen. Ein kopfsteingepflasterter großer Platz, leicht abfallend zum Hafen hin und umsäumt von alten und neuen bieder dreinblickenden Backsteinhäusern, soll beispielsweise einen Parkplatz versinnbildlichen. Die vollkommen nutzlosen Ausmaße wirken menschenabweisend. Dennoch lagert mitten in der Öde, winzigklein, eine türkische Familie um den trockenen Brunnen herum auf Kissen, speist, plaudert und ignoriert den Sittenverfall.

Am Fuß des Platzes, entlang der Mole erstreckt sich das Gelände, auf dem der sonntägliche Fischmarkt abgehalten wird. Hier steht das Glanzstück, die hingebungsvoll restaurierte Fischauktionshalle, und wartet auf geschlossene Gesellschaften, die ihr der Partyservice samt Go-go-Girls und Kellnern ins Haus schleppt. Daneben dämmert, monströs und schlickfarben, ein zerbröckelndes Lagerhaus vor sich hin. Der kleinere Seitenflügel ist eingerüstet, weiß verputzt und wird gerade mit einem meterhohen Wandgemälde versehen. In sozialistisch-realistischer Manier soll offenbar das Thema Frauenarbeit im Hafen dargestellt werden. Eine Arbeitsfrau ist schon fertiggestellt, ebenso drei Arbeitsdetails, auf denen in Phasen die Technik des Fischausnehmens durch die Hände der Fischausnehmerin gezeigt wird. Alles weitere ist erst in Konturen zu sehen. Vor dem Eingang staut sich eine Touristengruppe. Vielleicht ist dort die einzige öffentliche Toilette der Gegend.

Mehr Schaulustige ziehen die nahegelegenen Häuser der Autonomen in der Hafenstraße an. Auf der Uferpromenade, die vierspurige Autostraße als Sicherheitsabstand zwischen sich und den Chaoten nutzend, flaniert die Menge auf und ab. Lediglich Fotofreunde nähern sich den grellbunten Malereien auf den Häusern und Zirkuswagen, um sich durch ungehemmtes Stieren auf die Bewohner etwas Angstlust zu verschaffen. Reisebusse fahren im Schrittempo vorbei, und alles verdreht den Hals, um möglichst lange auf die staatsfeindliche Szenerie blicken zu können. Was der Bürger zu sehen bekommt an diesem Samstag nachmittag ist eher enttäuschend. Die Leibhaftigen beiderlei Geschlechts gehen leicht bekleidet bis lederumgürtet umher, liegen in der Sonne, spielen mit ihren Hunden „Stöckchen bringen“ und sitzen unter dem Damoklesschwert der Räumungsklage gemütlich plaudernd vor den Häusern herum. Die Szenerie wirkt wie eine Mischung aus Laubenpieperidylle, Monte Verita und Zirkuswagenleben. Ein Soziotop für zottelig verwilderte Halbzahme, denen das Kapitulierenlernen staatlicherseits demnächst beigebracht werden soll. Dem aufgekratzten Touristen bleibt nur der Anblick eines Autowracks, das womöglich vom letzten Barrikadenkampf übriggeblieben ist.

Wir treten vorsichtig näher, man ist ja auch nur Voyeur, und holen im hafenstraßeneigenen Cafe naturtrüben Apfelsaft und zwei Stühle, um draußen Platz zu nehmen. Unsere Hunde überstehen den ersten Kontakt mit den autonom erzogenen toleranten Fremdrüden lässig und legen sich zufrieden in den Staub. Von drinnen heraus dröhnt wie überall in der Gegend aus den offenen Fenstern die Übertragung des Fußballspiels Bayern-München gegen FC St.Pauli. Der Sprecher hechelt den Höhepunkten hinterher, ein Freak mit langem Pferdeschwanz übt auf dem Skateboard die Kehrtwende, und oben, unmittelbar über den Häusern, knattert in engen Kreisen unablässig ein Polizeihubschrauber. Neben uns an der Hauswand macht sich ein gebräunter Mann zu schaffen. Um die Hüften geschlungen trägt er ein indisches Tuch und im Ohr viele silberne Ringe. Mit wuchtigen Hammerschlägen treibt er ein rustikales Holzgestell in den Boden, das einer zarten Kletterpflanze Halt geben soll.

Am Waschbecken in der Toilette liegt eine Zahnbürste. Auf der Tür steht mit Filzstift geschrieben: „Hansa und Stullen, statt Panza und Bullen!“ An der Theke spricht mich eine Frau an, will meine Sonnenbrille genauer betrachten und schnippt mit dem Finger dagegen: „Ah, echtes Glas. Ist echt gut das Ding. Wohl schon älter?“ Dann erzählt sie, daß nebenan auf dem Platz ihr Wagen steht; duschen kann man im Haus. Der Zukunft sieht sie gelassen entgegen, weil: „die ganze Stadt ist voll mit Häusern, in denen nervige Spießer wohnen, da können ja wohl hier auch ein paar Psychopathen leben!“.

Später treffen wir uns auf dem Platz wieder. Sie zeigt uns ihren Zirkuswagen, er ist alt, aus Holz, grau gestrichen und müßte eigentlich repariert werden, wozu aber kein Geld da ist. Unvermittelt deutet sie mit dem Zeigefinger in mein Gesicht und fragt streng: „Warum machst du dir das eigentlich nicht weg?“ Hier hätte ich am wenigsten damit gerechnet, daß sich jemand ausgerechnet an einem Damenbart stößt. Der Dialog gleitet dann vom Haar unter meiner Nase aufs Fell unserer Hündin, das auch keinen Anklang findet, weil's stumpf wirke und „irgendwie krank“. Leicht irritiert entfernen wir uns mit Hündin und Bart.

Ablenkung verspricht der Kuriositätenladen von Harry Rosenberg, vis a vis der oberen Hafenstraßenhäuser. In über 50 Schauräumen, so verspricht das Eingangsschild, kann sich der Besucher frei bewegen und die Waren bestaunen. Drinnen ist es kühl, und ein modriger Geruch umschwebt die spitzbrüstigen schwarzen Holzstatuen, präparierten Fische, ausgestopften Tierschädel, Uhren, Teppiche, alten Taucheranzüge, Ölgemälde, Waffen, Bücher und Zeitschriften aus aller Welt. Wegweiser führen durch verschachtelte Kämmerchen, in denen all das gehortet ist, was der Seemann, als es noch keine Containerschiffe gab, von großer Fahrt mitbrachte. Eine Erotiksammlung kann auf Anfrage besichtigt werden. Ein weiblicher Schrumpfkopf aus Südostasien wäre zu sehen für 2,50 inklusive Berührung. Zu diesem Preis erwerben wir lieber einen 'Spiegel‘ vom Oktober 1957. Schon die Anzeigen sind das Geld wert. Das größte Problem scheint damals die Wahl des passenden Getränkes, eine tadellos sitzende Frisur und unreine Haut gewesen zu sein. Im Textteil zeigt ein Foto den SS-Mann Sommer, den „Henker von Buchenwald“, der in jugendlicher Frische einer Ausgleichszahlung von 10.000 Mark entgegensehen darf. Und aus Berlin wird gemeldet, der Innensenator habe - in vorbereitender Traditionspflege offenbar - Fraktionsgelder für „nachrichtendienstliche Zwecke“ abgezweigt und einen Teil davon gar in seine eigene Tasche gewirtschaftet.

In der Hafenstraßenkneipe, die meiner Erinnerung nach „Onkel Otto“ heißt, trinken wir Cola. Ohrenbetäubende Punkmusik wütet im ruinenhaft wirkenden Raum. An einem runden Tisch neben dem Tresen essen mehrere Frauen Spargel mit Schinken und Salzkartoffeln, angerichtet, als hätte der Ober serviert. Etwas abseits sitzen stoisch drei Schwarze. Neben uns dreht sich ein großflächig tätowierter Athlet mit gesenktem Kopf seine Zigarette, trinkt aus und geht, ohne uns ein einziges Mal mit dem Blick gestreift zu haben.

Wir wollen hier in der Straße die Nacht verbringen. Etwas abseits der Kneipe findet sich ein ruhig wirkender Parkplatz. Während draußen Touristen vorbeigehen und hundeführende Bürger, verhängen wir die Fenster im VW-Bus, braten Spiegeleier und trinken Kaffee. Die Glocken der St. -Pauli-Kirche schlagen die Viertelstunden, und mitten durchs friedliche Läuten heulen Martinshörner und Schiffssirenen.

In der Dämmerung brechen wir zu einem Spaziergang auf. Gemessen an der Uhrzeit ist nicht viel los auf der Straße. Ein altes Ehepaar geht vorbei, in Gegenrichtung nähert sich ein langhaariger junger Mann in grüner Militärhose, Schnürstiefeln und Anorak; auf dem Kopf trägt er ein gelbes Babyhäubchen. Rhythmisch aufstampfend und in eine Trillerpfeife stoßend, bleibt er vor dem Paar stehen, stößt den Mann kräftig vor die Brust und brüllt: „Heißen Sie Müller oder Meier oder wie! Vergewaltigen Sie Kinder oder was!“, geht weiter auf drei spielende Kinder zu, warnt mit erhobenem Finger: „Paßt bloß auf! Unzurechnungsfähige sind unterwegs!“ und stampft trillernd und brüllend weiter.

In der Grünanlage oberhalb der Promenade haben sich die obdachlosen Männer versammelt und diskutieren lautstark. Einige Bänke weiter sitzt eine Frau, auf den ersten Blick Spaziergängerin, die gegen den kühlen Abendwind Mantel und Hut trägt und Platz genommen hat, um kurz zu rasten. Bei näherem Hinsehen zeigt sich jedoch, daß ihre übereinandergeschlagenen nackten Beine blauviolett verfärbt sind bis zum Knie hinauf. Vermutlich durch alte Erfrierungen. Das knöchelhohe Schuhwerk ist desolat, der Mantel verschmutzt, und die Bierbüchsen, aus denen sie trinkt, wirft sie routiniert hinter sich ins Gebüsch, ohne den Oberkörper dabei zu drehen.

Unweit der Anlage in einem mit hohem Maschendraht umzäunten Kinder- und Fußballspielplatz hat sich die männliche und weibliche Jugend versammelt, ebenfalls aus Büchsen trinkend. Ringsum aus den geöffneten Fenstern schallen die Fernsehprogramme, Musik und Familienkrach. Neben einem Sozialrohbau herrscht etwas Stille, ebenso an den zugewachsenen Spekulationsgrundstücken, auf denen sich Müllsäcke, Autoreifen, Flaschen und Dosen auftürmen. Ehemals besetzte, geräumte und zugemauerte Häuser verrotten zwischen den belichteten Fenstern der Nachbargebäude dahin. Überall riecht es streng nach Urin, auch neben den alten Gruften und Hecken des Kirchhofgartens, der zusätzlich vollgeschissen ist von Mensch und Hund. Von dort aus führt eine Treppe Richtung Hafen hinunter. Zwischen zwei baufälligen Lagerhäusern geraten wir in einen finsteren Hinterhof. Inmitten von jauchig riechendem Abfall und Gerümpel aller Art steht eine aufgeklappte rote Couch voller Decken. Ein Schlafplatz offensichtlich. Daneben, blendend bonbonrosa, eine Beinprothese aus Kunststoff und wie neu. Katzen huschen davon, und vorn auf der Straße wankt ein Betrunkener vorbei und singt.

Auf dem Rückweg begegnen wir einem Trupp yuppieartig gestylter englischsprechender Touristen, die offenbar gerade von der Fähre kommen. Sie drehen eine langsame Runde um die Hafenstraßenhäuser und eilen dann Richtung Reeperbahn weiter. Im Trockendock von Blohm & Voss liegt ein gewaltiges Containerschiff. Unter gelblichem Scheinwerferlicht wird dort geschweißt, und der kaskadenhaft herabfallende Funkenregen spiegelt sich im Wasser.

Wir legen uns ins Auto und schlafen nach einer Weile ein. Irgendwann in der Nacht schrecken wir hoch durch Sirenengeheul. Feuerwehr und Polizei preschen, das Durchfahrtsverbot mißachtend, in die Straße hinein. Aus einem Fenster der oberen Hafenstraßenhäuser lodern Flammen. Es sieht aus wie ein Zimmerbrand. Dann jedoch werden die Flammen in den Raum zurückgezogen und nach einem Moment wieder hinausgestreckt. Ein Scherz. Die Ordnungshüter ziehen sich nach kurzer Beobachtung zurück.

Gegen Morgen wird es auf der Straße lebhaft. Kichernde Frauen stöckeln vorbei und lautstark prahlende Reeperbahnbesucher, die sich Richtung Fischmarkt bewegen, um saure Gurken zu essen und Kaffee zu trinken. Eine unruhige Gegend, wenn man bedenkt, daß währenddessen an der Elbchaussee die Nachtigallen schlagen.