Humanitäre Radikalität

■ Ein Fotoband von Jürgen Eschen dokumentiert die Hilfsaktionen des „Komitee Cap Anamur/Deutsche Notärzte“

Eine Woge der Hilfsbereitschaft für AsylbewerberInnern schwappt über die Bundesrepublik. Drei Tage nach der Ausstrahlung einer Fernsehsendung, die berichtet, wie vietnamesische Flüchtlinge - später „boat people“ genannt auf dem Südchinesischen Meer um ihr Leben ringen, sind 1,2 Millionen Mark auf einem Spendenkonto gelandet. Das ist zehn Jahre her und heute schwer vorstellbar, wo die Ablehnung gegen Flüchtlinge und Aussiedler beängstigend gewachsen ist. Beim Kampf um Wählerstimmen ist eine weitere Verschärfung der Asylpraxis zum zentralen Thema geworden. Aus dem Blick gerät immer mehr die Situatiom der Flüchtlinge, denen es oft nicht um ein besseres Leben, sondern ums bloße Überleben geht.

Von Überlebenskampf und Überlebenshilfe erzählt der Fotoband Humanitäre Radikalität. Jürgen Escher hat seit 1985 als freier Fotograf die Hilfsaktionen des „Komitee Cap Anamur/Deutsche Notärzte e.V.“ in die Projektgebiete Südchinesisches Meer, Afghanistan, Äthiopien, Tschad, Sudan und Uganda begleitet. Still und eindringlich sind die Bilder, die er mitgebracht hat, Bilder aus den Randzonen von Leben und Tod.

Tage und Wochen haben die vietnamesischen Flüchtlinge zusammengepfercht auf den kleinen Booten verbracht. Immer in Gefahr, von der Küstenpolizei erschossen, von Piraten erschlagen, verschleppt, vergewaltigt zu werden und/oder zu ertrinken. Oft vergehen Tage und Wochen, bis sie durch die Ferngläser des Hilfskomitees gesichtet werden. Nach der Rettung die erste Mahlzeit auf dem Schiff. In den Gesichtern sind die überstandenen Strapazen zu lesen, Haut und Haare glänzen noch vom Meerwasser, eingehüllt in wärmende Decken werden erste Zigaretten gedreht. Sitzend hält ein Vater sein Kind in den Armen. Er ist in Sicherheit auf der Cap Anamur. Doch seine Augen sind von der Angst gezeichnet.

Später liegt das Schiff im Hafen von Singapur. Vier Jugendliche sind an Deck, zwei betrachten versunken die Skyline von Singapur, zwei haben der Stadt den Rücken gekehrt. Die Vorschriften verbieten, daß ein Flüchtling bis zum Erreichen des Zielpunktes - die Bundesrepublik - das Schiff verläßt.

Mit 286 Flüchtlingen läuft die Cap Anamur II im Hamburger Hafen ein. Zwei Menschenmengen stehen sich gegenüber. Die Geretteten drängen sich an Bord. An Land Fähnchenschwingende und Winkende, die sie in der neuen Heimat begrüßen. 5.000 Deutsche sollen gekommen sein.

Das Komitee Cap Anamur ist mit den Hilfsaktionen im Südchinesischen Meer bekannt geworden. Weniger bekannt, weil auch weniger spektakulär, sind die Projekte an den Fronten, in Kriegs- und Hungergebieten, dort wo Tausende krepieren.

Immer wieder die Aufnahmen der Speisungen. Flirrende Hitze, in der apathisch, stumm und zusammengekauert Massen warten, zerfetzte Kleidung über den ausgehungerten Körpern. „MERCY FLIGHT GERMANY“ steht auf dem Flugzeug, das die Hilfslieferungen nach Äthiopien schafft. Tränen auf den Wangen des Kindergesichts, das vom Hunger aufgeschwemmt trügerisch wohlgenährt aussieht. Mit seiner straffen Hand kneift das Baby in die faltige, zusammengeschrumpfte Haut am Busen der Mutter, als wolle es ihr die letzte Kraft herauspressen.

Ein anderes Foto, das dem Auge keinen Punkt zum Ausruhen anbietet. Der Blick springt hin und her zwischen dem Jungen, rechts im Bild, über ein zerschossenes Podest in der Mitte, zu der Ansammlung von Knochen, die nach Größen sortiert in Reihen an eine Wand gelehnt sind. Uganda, Luwero-Busch, erklärt der Text. Im Gemeindehaus soll eine Gedenkstätte für die von Regierungstruppen Ermordeten entstehen, deren Überreste hier gesammelt werden. Wie ein Totenwächter steht der Junge, einen Holzstab zwischen Beine und Arme gestemmt.

Schon gewöhnt sich die Wahrnehmung an die Aufnahmen von der medizinischen Versorgung, den tastenden Händen der Ärztinnen, Patienten mit Infusionsschläuchen und Verbänden. Dann sieht man zunächst nur ein Tuch, erst später die Kinderfüße und den Schlauch am Bildrand. Der bedeckte Körper ist so winzig, daß er das helle Tuch kaum wölbt. Ein Totenbild, einzigartig in seiner Stille und Traurigkeit.

Dem bedingungslosen Einsatz für Menschen haben sich die Mitarbeiter der privaten Hilfsorganisation „Cap Anamur/Deutsche Notärzte“ verschrieben. Rupert Neudeck, Organisator und Gründer des Komitees, beschreibt im einleitenden Kapitel des Fotobands Arbeitsweise und Geschichte, bürokratische und politische Hindernisse, über die sie sich hinweggesetzt haben.

„Die Arbeit in den Ländern der Dritten Welt ist wie zum Zerreißen zwischen zwei ganz extremen und widersprüchlichen Zielen aufgehängt. Einmal sagen wir immer... wir sind diejenigen, die das Politische gar nicht interessiert, ob uns die ideologische Hautfarbe einer Regierung oder einer Befreiungsbewegung paßt oder nicht...zupacken und nicht fragen, weshalb diese Menschen jetzt in diese Not geraten sind. Zugleich aber geht dieses Engagement mit dem höchsten politischen Bewußtsein einher. Wollen wir doch gleichzeitig dafür sorgen, daß die Probleme der Habenichtse und Schmuddelkinder in der Welt bekannt gemacht werden.“

Petra Schrott

Rupert Neudeck, Jürgen Escher Humanitäre Radikalität. Das Buch kann mit dem Vermerk „Cap Anamur Bildband“ bei der Sparkasse Köln, Konto 8002222, BLZ 37050198 für 19 Mark bestellt werden.