Wird Marx von Nicaraguas Unis verbannt?

Von Vizepräsident Sergio Ramirez eingesetzte Kommission empfiehlt Abschaffung des marxistischen Philosophieunterrichts / Schlechte Ausbildung in Marxismus-Leninismus, veraltete Lehrbücher aus der Sowjetunion und Widerspruch zwischen Theorie und nicaraguanischer Realität schrecken StudentInnen ab  ■  Aus Managua Ralf Leonhard

Der künftige US-Präsident Bush bemühte einmal eine Briefmarke, die Nicaragua zum 100.Todestag von Karl Marx herausgegeben hatte, um dem amerikanischen Kongreß zu beweisen, daß die Sandinisten ein marxistisches Regime errichtet hätten. Seit einigen Wochen wird in Nicaragua diskutiert, ob marxistisch-leninistische Philosophie aus den Lehrplänen der Universität gestrichen werden soll. Jahrelang hatten Mitglieder der alten Bourgeoisie ihre Söhnchen und Töchterlein lieber ins Ausland geschickt, als zuzulassen, daß diese an der Uni vom marxistischen Bazillus infiziert würden. Und jetzt stellt sich nach fast zehn Jahren sandinistischer Revolution heraus, daß der Unterricht nichts gebracht hat.

„Man hört täglich in den Hörsälen unwissenschaftliche Bemerkungen, die einem die Haare zu Berge stehen lassen“, erregt sich ein Professor auf der Meinungsseite in der Tageszeitung 'El Nuevo Diario‘, „aber niemals hätte ich mir träumen lassen, daß ich eines Tages ein von Intellektuellen verfaßtes Dokument in Händen halten würde, das die Abschaffung des marxistischen Philosophieunterrichts in Nicaragua fordert.“

Dieses skandalöse Papier, das offiziell noch nicht publiziert wurde, ist das Produkt einer Kommission, die von Vizepräsident Sergio Ramirez eingesetzt worden war. Es bestätigt die Beobachtungen, die zur Bildung der Kommission geführt hatten, und stellt die Abschaffung der besagten Vorlesungsfächer zur Diskussion. Die Dozenten seien zu dogmatisch, hingen zu sehr an den Lehrbüchern und hätten in der Regel selbst keine profunde Kenntnis der Materie; die Studenten fänden den Unterricht daher uninteressant und lehnten ihn mehrheitlich ab; das vorhandene Lehrmaterial schließlich sei mangelhaft und veraltet.

„Aus all diesen Gründen schlagen wir vor, den marxistisch -leninistischen Philosophieunterricht aus den Lehrplänen aller Fakultäten der Universität zu streichen“, heißt die Schlußfolgerung. Als Alternative regt die Kommission an, die Grundlagen des Marxismus verstärkt über die Analyse der Geschichte der nicaraguanischen Revolution zu transportieren. Wegfallen sollen die Vorlesungen aus Philosophie und Wirtschaftsgeschichte, die für Hörer aller Fakultäten in den ersten Semestern obligatorisch sind.

Bei allen Bekenntnissen zum Sozialismus, die die sandinistische Führung im letzten Jahr abgegeben hat, ist die theoretische Ausbildung der Basis mehr als mangelhaft: „Wenn man heute an den Universitäten abstimmen ließe, würde die Mehrheit der Studenten die Abschaffung aller Marxismusvorlesungen unterstützen“, schreibt Kaderausbilder Karlo Navarro in der sandinistischen Parteizeitung 'Barricada‘, die ihre Debattenseite mehrere Tage für das Thema zur Verfügung stellte. Die Vorlesungen über historischen und dialektischen Materialismus stützen sich meist auf sowjetische Handbücher, die in der Sowjetunion im Zuge der Perestroika als simplifizierend und dogmatisierend ausgemustert wurden. „Während die Lehrbücher die vollständige Enteignung der Bourgeoisie postulierten, predigt die Regierung hier Mischwirtschaft und sozialen Ausgleich.

„Die Widersprüche waren einfach zu offensichtlich“, erklärt Roberto Saenz, Generalsekretär des Unterrichtsministeriums. „Wenn wir Fragen an den Professor hatten, wurden wir immer wieder auf die folgende Stunde verwiesen, weil er sich selber nicht auskannte“, erzählt die Pharmaziestudentin Yadira Rueda. Und eine Medizinerin berichtet, bei ihr habe es überhaupt nie Fragen gegeben, weil man einfach ins Heft kopierte, was der Professor aus dem Handbuch an die Tafel schrieb. Obwohl Fachleute aus Kuba, der DDR und der UdSSR bisweilen Fortbildungskurse für Marxismusdozenten abhalten, ist die Ausbildung der Fachkräfte mangelhaft. „Schließlich begeben wir uns auf Neuland“, erklärt einer, „denn unter Somoza war das alles tabu.“ So wurden mitunter europäische Gastdozenten von nicaraguanischen Kollegen überrascht, die ihnen ihre Marxismusvorlesungen abtreten wollten.

„Es geht nicht darum, den Marxismus-Leninismus aus dem Universitätsunterricht zu verbannen“, beschwichtigt Joaquin Solis Piura, der für den akademischen Bereich verantwortliche Vizeunterrichtsminister, „sondern ihn besser zu unterrichten, das heißt, ihn besser einzusetzen, um bessere Ergebnisse zu erzielen.“ Im sandinistischen Nationaldirektorium ist die Entscheidung, ob Marx und Lenin geopfert werden sollen, noch nicht gefallen. „Ich selbst habe am Beginn der Revolution darauf gedrängt, daß die Doktrin, die in ihren verschiedenen Interpretationen ein Drittel der Welt verändert hat, an den Hochschulen unterrichtet werden sollte“, erklärte der für den Parteiapparat zuständige Comandante Bayardo Arce, „aber ich halte die Diskussion für vernünftig.“