Vom athletischen Aschenbrödel

■ 150 Jahre deutscher Kommunismus oder zum 180.Geburtstags des Handwerkerburschen und Frühkommunisten Wilhelm Weitling

Ute Scheub

Wilhelm Weitling, der erste deutsche Kommunist und Internationalist, wäre am 5.Oktober 180 Jahre alt geworden. Aus diesem Grunde und weil er es nicht verdient hat, vergessen zu sein, organisierten die „Weitlingianer“ Hans -Arthur Marsiske und Lothar Knatz vor kurzem eine Arbeitstagung im „Hamburger Institut für Sozialforschung“. Weitling-ForscherInnen aus der Bundesrepublik, der DDR, England und der Sowjetunion drehten drei Tage lang ihren Liebling durch die Mangel.

„Ihn selber, der die Welt in einen Garten und die Menschheit in eine Familie verwandeln wollte“, so trägt die Ostberlinerin Waltraud Seidel-Höppner vor, „hat das Leben nicht verwöhnt.“ Als uneheliches Kind einer Köchin und eines in Rußland verschollenen französischen Offiziers wird er 1808 in Magdeburg geboren. In jungen Jahren machte er eine Schneiderlehre. Dem ihm drohenden preußischen Kasernendrill kann er sich mittels eines falschen Passes entziehen, mit dem er zehn Jahre lang die rückständige deutsche Kleinstaaterei bis nach Prag, Wien und Paris durchwandert. Und während im fernen Weimar der Dichter Goethe gerade Wilhelm Meisters Wanderjahre verfaßt, absolviert Wilhelm Weitling seine Lehrjahre auf der Straße. Wie kommt gerade so einer später auf kommunistische Ideen? Zum einen, sagt der englische Historiker John Breuilly, weil Weitling den Widerspruch zwischen dem idyllischen Bild vom Wandern und der grimmigen Realität „von Hunger, Krankheit, mangelndem Schutz in schlechtem Wetter, Mißhandlung durch Beamte, Schulden...“ gründlich durchlebt habe. Zum anderen, weil kleine Handwerker wie er damals beim Ankauf von Material und Verkauf fertiger Produkte in immer stärkere Abhängigkeit von Kaufmannskapital gerieten und somit auch in grundsätzliche Feindschaft zum Geld. Sämtliche „durch Kapitalienverteilung“ bewerkstelligten Reformen würden „die großen Geldhaufen nur kleiner machen“, wettert Weitling irgendwann.

In Paris, das noch unter den Auswirkungen der Julirevolution von 1830 steht, erhält der Wanderbursche Weitling seine revolutionären Weihen. Er stößt zum „Bund der Geächteten“, in dem die politischen Flüchtlinge aus der deutschen Kleinstaaterei zum Zwecke der „Befreiung Deutschlands von dem Joche schimpflicher Knechtschaft“ konspirieren. 1838 geht daraus der - mehr proletarisch orientierte - „Bund der Gerechten“ hervor. Der Schneidergeselle Weitling schreibt ihm das Programm, das seinerzeit zunächst heftiger diskutiert wird als zehn Jahre später das Kommunistische Manifest: Die Menschheit, wie sie ist und wie sie sein sollte.

„Ich verfaßte die Schrift zu einer Zeit, in der ich jeden Tag bis 11 oder 12 Uhr als Schneidergeselle arbeiten mußte“, so berichtet er später. Seine politischen Freunde im „Bund der Gerechten“ stürzen sich in Schulden und tragen sogar Golduhren zum Pfandhaus, um die Herstellungskosten zu bezahlen. „Kein kläglicherer Anblick“, schreibt sein Kampfgefährte August Becker, „als dieses von Druckfehlern wimmelnde Schriftchen“, das ein getreues „Bild des proletarischen Elends“ sei und dennoch die erste deutsche Kommunistenschrift seit Thomas Müntzer.

Weitling, das zeigt sich auch an seiner später vorgelegten Schrift Das Evangelium des armen Sünders, legt die christliche Lehre durchaus ähnlich aus wie des Reformators Luther revolutionärer Gegenspieler Thomas Müntzer. „So wenig ein Kamel durch ein Nadelöhr geht“, zitieren sie beide mit heiligem Zorn aus der Heiligen Schrift, „so wenig kann ein Reicher das Reich Gottes erlangen.“ „Die Einen arbeiten wenig oder gar nichts, und schwelgen im Überfluß“, ärgert sich Weitling, „während die andere größere Zahl unmäßig arbeitet, und dabei öfters gar noch darben muß.“ Um Arbeit und Genuß endlich gerecht zu verteilen, entwirft er eine erst später in „Kommunismus“ umgetaufte - Gütergemeinschaft, an deren Spitze ein Senat steht, der den gesellschaftlichen Bedarf an Gütern ermittelt.

„Weitling hält es nicht für nötig“, so faßt Hans-Arthur Marsiske von der „Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur“ diesen ersten utopischen Entwurf zusammen, „die Verteilung der lebensnotwendigen Güter besonders zu regeln. Vielmehr erwirbt jedes Mitglied der Gütergemeinschaft einen ungehinderten Zugang zu diesen Gütern durch Verrichtung seiner täglichen Arbeit, wobei Weitling davon ausgeht, daß künftig niemand mehr auf einen Beruf festgelegt sein wird ... und die täglich notwendige Arbeitszeit von anfänglich sechs Stunden nach zwanzigjähriger Gütergemeinschaft leicht auf drei Stunden gesenkt werden könnte.“ Heutzutage, angesichts der kläglichen Kampagnen der 35-Stunden-Wöchler, kann man Weitling für seinen ungestümen Optimismus nur beneiden.

Eines übersieht er aber dabei nicht: „Dem Einen fällt es ein, diesen oder jenen Tag nicht zu arbeiten. Einem Andern gefällt die Bundestracht und die Form der Bundesmöbeln nicht. Wieder einem andern fällt es ein, noch dieses oder jenes zu essen oder zu trinken, was nicht im allgemeinen Küchenzettel vorkommt. Der möchte gerne eine goldne Repetieruhr haben, aber nicht ohne Minutenzeiger; wieder ein anderer eine Stubenuhr, aber sie muß ihm beliebige Stücke spielen. Und so hat Jeder sein besonderes Verlangen, seine besonderen Gelüste.“ Um diese Sonderwünsche zu erfüllen, hat deshalb jeder Kommunarde die Möglichkeit, über die tägliche Mindestarbeitszeit hinaus „Commerzstunden“ abzuleisten, die in sein „Commerzbuch“ eingetragen werden und zum Erwerb von Gütern außerhalb des allgemeinen Bedarfs berechtigen.

Jahre später sollte Karl Marx jegliche von ihm selbst entwickelte historische Dialektik an der Grenze zum „Reich der Freiheit“ abrupt enden lassen und über die Verteilung von Jagd- und Angelscheinen an die dort glücklich Angekommenen nicht hinauskommen („morgens Fischer, mittags Jäger, abends Kritiker...“). Weitling vor ihm ist da notgedrungen naiver, aber auch mutiger. Er wagt sich im Gegensatz zu Marx aufs Glatteis und versucht nicht nur das Problem der Verteilung von Extrawürsten zu lösen, sondern, in wilden Pirouetten, auch das der freien Entwicklung von Wissenschaften und Künsten. Die „Meistercompagnien“, bestehend „aus solchen Gliedern der Gesellschaft, die eine nützliche Erfindung oder Entdeckung gemacht haben“, haben seinem Entwurf zufolge völlige Freiheit bei der Gestaltung ihrer Arbeitszeit, da ihrer Tätigkeit quantitativ schlecht abgewogen werden kann - zweifellos eine von Weitling eigentlich nicht gewollte Privilegierung.

Denn wie Müntzer, wie später in Anklängen Marx, so sieht auch er den Kommunismus ganz in christlicher Vaterunser -Tradition als „Erlösung von dem Übel“: „Die Gütergemeinschaft ist das Erlösungsmittel der Menschheit; sie schafft die Erde gleichsam zu einem Paradies um, indem sie die Pflichten in Rechte verwandelt, und eine Menge Verbrechen aus der Wurzel vertilgt. Die verabscheuten Worte: Raub, Mord, Geiz, Diebstahl, Bettelei, und viele ihres Gleichen, werden in den Sprachen der Nationen veralten...“

Weitling wechselt von Frankreich in die Schweiz über. 1841 gibt er monatlich in tausend Exemplaren des 'Hülferuf der deutschen Jugend‘ heraus, später 'Die junge Generation‘ genannt. Er ruft „das Volk in Blusen, Jacken, Kitteln und Kappen“ zum ökonomischen Tageskampf auf, warnt aber vor Maschinenstürmerei und individuellem Terror, „Krieg gegen die Personen“. Er predigt die Weiterbildung in Arbeitervereinen und gründet proletarische Speisehäuser als Zentren von Selbsthilfe und internationaler Solidarität.

Ende 1842 erscheint sein Hauptwerk, die Garantien der Harmonie und Freiheit, in dem er die Notwendigkeit eines proletarischen Umsturzes begründet. „Aufrichtig gesprochen: eine Revolution tut uns noth“, schreibt er und warnt zugleich, eine bloß konstitutionelle reiche nicht aus. Für die Reichen nur habe „das Volk sich in zwei Revolutionen geschlagen“, in denen von 1789 und 1830 in Frankreich nämlich. „Seien wir darum nicht taub und blind gegen alle Vernunft und hoffen wir weder vom bloßen Namen Republik noch von der sogenannten Volksherrschaft eine Änderung unserer Lage.“

Heinrich Heine, Bakunin, Ludwig Feuerbach, sie alle sind von der Schrift frappiert. Auch Karl Marx, der sonst so ungern lobt, zollt ihm im Pariser 'Vorwärts‘ im Jahre 1844 Begeisterung pur: „Wo hätte die Bourgeoisie - ihre Philosophen und Schriftgelehrten eingerechnet - ein ähnliches Werk wie Weitlings Garantien der Harmonie und Freiheitin bezug auf die Emanzipation der Bourgeoisie die politische Emanzipation - aufzuweisen? Vergleicht man die nüchterne kleinlaute Mittelmäßigkeit der deutschen politischen Literatur mit diesem maßlosen und brillanten Debüt der deutschen Arbeiter; vergleicht man diese riesenhaften Kinderschuhe des Proletariats mit der Zwerghaftigkeit der ausgetretenen politischen Schuhe der deutschen Bourgeoisie, so muß man dem deutschen Aschenbrödel eine Athletengestalt prophezeien.“

Nachdem er wegen seiner antiklerikalen Schrift Evangelium eines armen Sünders ein Jahr im Züricher Gefängnis verbringen mußte, geht er 1844 nach London, um sich dort schließlich mit Marx und Engels zu verkrachen.

Ende 1846 geht er nach New York. Als Delegierter der dort von ihm organisierten Arbeitervereine kehrt er zu Beginn des Revolutionsversuchs von 1848 nach Deutschland zurück und ruft zur Verteidigung demokratischer Errungenschaften wie der Pressefreiheit auf. Der von ihm in Hamburg gegründete „Befreiungsbund“ kann sich im Oktober 1850 immerhin auf 4.400 Mitglieder in zehn Städten stützen - seinerzeit die stärkste kommunistische Organisation.

Doch da ist er schon wieder in die USA zurückgekehrt, wo er sich schließlich der Denk- und Sprachlehre und astronomischen Studien widmet. Aber Papier kann den Hunger nach Brot in seiner neunköpfigen Familie nicht stopfen seine ökonomische Not ist so groß wie immer. Er träumt vom Ankauf von Land für selbstverwaltete Arbeiterkolonien. Doch als sich die von ihm gegründete Siedlung „Communia“ 1852 auflöst, reißt sie seinen „Arbeiterbund“ mit in den Untergang. Am 25.Januar 1871 stirbt er 62jährig in New York.