Artisten für die Masse

■ Der Neuköllner Artistenverein „Einigkeit“ wurde 100

Auf der Neuköllner Rathaustreppe werden Melonen und Luftballons geschwungen. Betagte Artisten postieren sich zum Gruppenfoto, ihr Artistenverein „Einigkeit“ feiert 100.Geburtstag vor der Presse. Fans und Verwandte ringen mit den Berufsfotografen um die besten Perspektiven. Das Akkordeon spielt „Strangers in the night“, und einige scheren zu Einzelaktionen aus. Ein Mensch im Eselskostüm wird umlagert. Der Zauberer stiehlt ihm für Minuten die Schau, führt ein paar Kunststücke vor, bei ausbleibendem Applaus bricht er die Übung ab. „Mensch, is det furchtbar“, sagt er zum Kollegen im Kosakenkostüm.

Ganz anderer Meinung ist eine jubelnde Passantin. „Mensch, ist dat nett“, ruft sie mit tränenden Augen. Aufgekratzte Stimmung, alle kommandieren wild durcheinander. Nicht nur die Dame im dünnen Biedermeier-Pastellkostüm friert. Schnell folgt ihr eine ältere Frau, die mit ihrem Glitzerkäppchen zur festlichen Stimmung beitragen will, ins Rathausinnere. „In Rixdorf gibt's Musike. Na, wo bleibt se denn“, fordert der Pressesprecher im Rixdorfsalon die Artisten herein.

Leider kann die Jubiläumsbroschüre noch nicht präsentiert werden. Trotzdem dankt der 2.Vorsitzende den verschiedenen Geldgebern mit einem Seitenschlenker auf die tauben Ohren des Kultursenators. „Wenn wir einen Clown wie den Cadillac auf dem Kudamm einmauern, dann haben wir vielleicht mehr Glück.“

Mit Goldmedaille um den Hals und Boddingemälde im Nacken folgt die Ansprache des Bezirksbürgermeisters Kriedner. „Einigkeit macht stark, daher der Name des Vereins.“ Die Rixdorfer seien die Berlinischsten unter den Berlinern. „Hier sammelten sich Artisten, die im ganzen Reich zu Hause waren.“ Fälschlicherweise werden die Tabletts mit den Brötchen zu früh herumgereicht. Wild gestikulierend, versucht der 2.Vorsitzende, die Verteilung zurückzubeordern. Vergeblich, der Clown hat sich schon die rote Pappnase abgesetzt, die am Gummiband um seinen Hals baumelt. Herzhaft beißt er ins Brötchen. Zwar gibt es keinen Tusch, doch jede Redepause des Bürgermeisters nutzt eine Zuhörerin zum lauten „Ja!“ und ausgiebigen Klatschen. Besonders gefällt ihr seine Bemerkung: „Wir Politiker sind auf unsere Art auch Artisten in der hohen Kunst, aus leeren Kassen Geld zu zaubern. Bei aller Technikgläubigkeit - wir brauchen Menschen, und der menschlichste ist und bleibt der Artist.“ Heute feiert auch der 1.Vorsitzende, Charly Christian Geburtstag, seinen 70. Sichtlich bewegt spricht er in Manegenlautstärke. Der Verein sei auf 110 Mitglieder angewachsen, die 4 bis 90 Jahre alt sind. Mit 10 Pfennig pro Tag sind die Mitglieder dabei. Zum Training stehe eine Turnhalle zur Verfügung.

„Als junger Mensch hab ich mir beim Training alles kaputtgemacht“, setzt mein 82jähriger Tischnachbar ein, einst Schleuderbrettakrobat. Seine Gattin will das Gespräch in eine andere Richtung lenken. „Also, der Freddy Quinn, der ist auch Mitglied. Und dann gibt es noch meist ältere Damen, die Gesellschaft suchen.“ Unter Beifall der Kollegen plaziert der Clown sich unter dem Leuchter. Ohne Aktion ist der Star des Tages die 90jährige Olli von Lipinski. Mit dem Flair einer Grande Dame gibt sie Interviews. „Ich war Parodistin, Typendarstellerin mit der Nummer 'Liebe und Frauen im Wandel der Zeit‘.“ Kunst für Einzelne oder die oberen Zehntausend will der Verein machen und bekommt Rückenwind vom Bezirksbürgermeister. „Nicht nur die ätherische Kunst soll unterstützt werden, sondern, was bei der Menge ankommt.“

Petra Schrott

Premiere von „Tempo, Trick und Phantasie“ am 25.10., 19 Uhr im Gemeindehaus Genezareth, Schillerpromenade 16, Neukölln.