Die europäischen Filme in amerikanischen Augen

Rucksäcke am Lido. An meinem ersten Morgen in Venedig fand ich die Leute mit ihren Rucksäcken und den Unmengen von Einkaufstüten an den Bushaltestellen. Armer Tadzio, armer Thomas Mann, armer Visconti. Das „Des Baines Hotel“, das letzterer so großartig restaurieren ließ, steht noch genauso da: üppige Balkons, Marmor, Einlegearbeiten aus Edelhölzern. Alles so, wie ihre Phantasie es erschuf. Diese reiche kleine Insel mit ihren geschmückten Straßen, schmalen Kanälen und alten Häusern, die würdevoll zusammenbrechen, trennt keine Barriere von den Armen. Man wundert sich, wo sie herkommen, wo sie sich während des Tages verstecken, wenn das internationale Publikum am Strand in seinen privaten Badekabinen Champagner und eisgekühlte Pfirsichsäfte schlürft.

Mein Hotel gehört zu der Kategorie, bei der der Putz von den Wänden fällt und den Blick auf die Backsteine freigibt. Aber es hat seinen Reiz. Vor allem der aus Töpfen sich über alle Balkons verrankende Wein und der australische Gentleman, der seinen geliebten Zwieback die weite Reise bis nach Italien lieber mitbrachte. In dieser behaglichen Idylle tragen die Carabinieri Maschinenpistolen. Zierliche Geräte wie aus einem Designerstudio, die Antwort von Recht und Ordnung auf Manns Tod in Venedig.

Unerwartet gut schneidet die jüngste Ernte amerikanischer Filmkomödien ab. Von den großen Erfolgen solcher Filme wie A fish called Wanda, Big, Roger rabbit und Things change in den Kinos der USA wurden sogar ihre Produzenten überrascht. Ich überlasse meinen europäischen Kollegen das Urteil über das neueste coming out amerikanischen Humors.

Was die europäischen Filme auf dem Festival angeht, so liegt Pedro Almodovars Frauen am Rande des Nervenzusammenbruchs um Längen vor dem Rest des Feldes. Ein scharfes Stück Film, eine Satire auf Genrefilme und Situationskomödien, straffer als sein Vorgänger Gesetz des Verlangens, weniger extravagant vielleicht, aber diese größere Präzision läßt die Pointen nur heftiger platzen.

Ein Mann, seine Frau, seine Geliebte, deren Freundin, sein Sohn, dessen Freundin, die neueste Flamme des Mannes und eine Handvoll shiitischer Terroristen. Jedes dramaturgische Schema von Film, Funk und Fernsehen wird über den Haufen geworfen, kein Platz für die gewohnten vorfabrizierten Gefühle. Almodovars bissige Eleganz kommt von Film zu Film besser. Romy Haag spielt Noel Coward.

Giuseppe Bertoluccis Die Kamele kommt Almodovar recht nah. Er hat es freilich mehr mit den Absurditäten italienischer Fernsehshows als mit Situationskomödien oder Hollywood-Klassikern. Sein Humor ist eher der eines Abbot und Costello.

Geza Beremenyis Eldorado: Ein hektischer Film aus Ungarn, mit der Handkamera gedreht, um das ungarische Nachkriegschaos und die Tücken des Überlebens in wechselnden Regimen möglichst plastisch festzuhalten. Sergej Parazanovs Asik Kerib stieß hier auf Interesse vor allem wegen der politischen Auseinandersetzungen, die der Regisseur mit Moskau hatte, aber der Film ist auch selbst ziemlich verrückt. Mehr Tanz und Ritus als Film - eine Art georgisches Kabuki.

Das Leben ist ein langer, ruhiger Fluß, Frankreichs Hit in diesem Jahr, ist eine Katastrophe und ein Schlag ins Gesicht sowohl der Bourgeoisie als auch der Armen, die im Film gezeigt werden. Wäre der Film geschickter gemacht, so wäre er eine faschistische Komödie über die biologische Determiniertheit des Menschen. So ist es nichts als eine billige Karrikatur.

Wie in Das Leben ist ein langer Fluß kommen auch in Mike Leighs High Hopes - ein Versuch, die Klassenfrage mit heiterer Sympathie zu kommentieren - beide schlecht weg: die Arbeiter und die neue Mittelklasse. Leigh könnte viel besser sein, wenn er seinen Schauspielern Beine machte und seine Pointen eleganter fallen ließe. Soweit eine untypische kleine Auswahl aus der boomenden englischen Filmindustrie.

Lea Pools kanadischer Beitrag A corps perdu, eine Hommage auf die menage a trois, ist hervorragend fotografiert - s/w und Farbe - mit einer aufregend erotisch verschlungenen Sex-Szene darin (eine der ganz wenig guten bei diesem Festival), aber es gelingt dem Film nicht, uns wie versprochen - über den Unterschied zwischen einem pas de deux und einer menage a trois aufzuklären.

Robin Sprys Hitting home ist die Geschichte einer Frau, die den Amerikaner sucht, der ihren Sohn bei einem Autounfall tötete und dann Fahrerflucht beging. Eine sensible Variante von Fatal attraction. Statt die Frau in eine Hexe zu verwandeln, wie Adrian Lyne es mit Glenn Close tat, läßt Spry sie erkennen, daß Rache ihr den Sohn nicht wiederbringt. Der Autofahrer, ein ganz normaler Computerfachmann, sieht seine Schuld ein. Der Film wird sein Geld und auch im Fernsehen eine gute Figur machen.

Scorseses Last temptation wurde auf dem Festival gezeigt. Ohne größeren Protest. Es tut mir leid, es sagen zu müssen: Die Katholiken haben alle unsere Erwartungen enttäuscht und ihre Versprechen gebrochen: kein Krawall, kein Aufstand. Die amerikanischen Protestanten haben eindeutig die bessere Show geliefert.

Der größte Frust nach Ermanno Olmi: die berühmt -berüchtigten Panini. Aufgeblasene Crackers, die aussehen wie Vogelfutter. Es gibt keine Butter für sie (man kann sie bestellen, bekommen habe ich nie welche), obwohl sie sie von allen Crackers in der Welt am nötigsten haben. Schließlich: Man bekommt Wein in den Restaurants und man bekommt Wasser. Nie aber bekommt man Gläser für beides. Und das im Heimatland des Glases. Seit zwei Wochen trinken wir Schorle.

Marcia Pally, aus dem Amerikanischen von Arno Widmann