Kernige Sprüche sanft verpackt

■ Eine Kreuzberger Zeitungsfrau zu Abtreibung, Ausländern und Deutschlandpolitik

Mehringdamm Ecke Yorckstraße. Samstags steht sie bis zum frühen Morgen hinter Zeitungsstapeln und Eierkisten. Ob in lauen Sommernächten oder mehrschichtig eingepackt bei klirrender Kälte, sie bleibt, bis die letzten Exemplare verkauft sind. Eine Petroleumlampe auf den plastikverschweißten Zeitungspaketen taucht die Szene in mattes Licht und verpaßt unserer satten und ausgeruhten Zufriedenheit den letzten Rest zum Großstadtidyll. Wir reihen uns in die lange Schlange ein: kuschelnde Paare, Gemurmel von der gemütlichen Bettlektüre, Arbeits- und Wohnungssuchende, die erpicht sind auf die anzeigenstarken Sonntagsausgaben. Mit ihrer weiten Kittelschürze, dem schütteren Haar, das sie sich aus dem Pferdeschwanz gezaust hat, gleicht die alte Zeitungsverkäuferin einer ärmlich abgeschafften Bäuerin, die sich nachts an die Großstadtkreuzung verirrt hat. Überraschend ist ihre helle Mädchenstimme, der jegliche Verärgerung fehlt, wenn sie sagt: „Vor lauter Arbeit komme ich gar nicht zu meinem Kaffee.“ Ob sie Zeit hat, mit uns zu reden? Ihr freundlicher Ton macht mich zuversichtlich und die Wartenden geduldig. Für jeden hat sie noch ein paar Sätze auf Lager. „Ach, hätten Sie wohl Kleingeld. Bitte sehr, meine Liebe. Schönen Abend noch...“ Als sie sich bückt, um das Wechselgeld aus dem Eierhort zu holen, erhellt die Funzel ihr Lächeln.

Nein, in die Zeitung wolle sie nicht, das schade ihr nur, wie sie aus Erfahrung wisse. „Da hatte ich schon mal Ärger mit den Nachbarn, denen meine Hühnerfarm ein Dorn im Auge ist.“ Mit unverändert sanftem Klang fügt sie hinzu, „außerdem bin ich heute persönlich ganz fertig.“ Das müssen wir respektieren, wir können gehen, doch ihrer Ablehnung fehlte der Nachdruck, und wir bleiben wie angewurzelt stehen. Sie geht mit geneigtem Kopf zum Nächsten über. „Jawohl, 2 Morgenpost, große Taten werfen ihre Schatten voraus.“ Blitzschnell landen Geldscheine in der Plastiktüte zu ihren Füßen. Fließend ihre Freundlichkeit, dem jungen Mann steckt sie die Zeitung auf seinen Gepäckträger, „nicht aus Neugier“ öffnet sie die Tasche eines Kunden und verstaut das Fernsehprogramm für die nächste Woche. Als alle bedient sind, wendet sich uns wieder zu. „Mit den 400 Hühnern, das muß ich alles alleine machen, und jetzt muß ich mich um die Renovierung des Miethauses kümmern.“ Über sich wolle sie nicht reden, höchstens ein „politisches Interview“ geben und legt los. „Mich fragt ja keiner wegen Ramstein. 98 Prozent haben Hitler gewählt. Ich war ja noch zu jung. Jetzt gehören alle zu den restlichen zwei Prozent.“ Der Verkauf stockt, sie vertut sich mit dem Wechselgeld. „50 Mark für die Tischlerstunde, daran sind nur die Gewerkschaften schuld. Und dann erst die Deutschlandpolitik. Alle reinlassen und jetzt, wo unsere Leute kommen, ist kein Platz mehr. Alles Wirtschaftsflüchtlinge“, sagt sie und starrt dem Pakistani auf die Golduhr, die an seinem braunen Arm funkelt und vergißt nicht das „Ja bitte schön“. Bei ihren Haßtiraden behält sie die einlullend sanfte Stimme. „Die kriegen doch Kinder wie die Karnickel, aber das wird ja noch unterstützt.“ Ihre Lippen bewegen sich noch, als sie dem Türken das Wechselgeld in die Hand legt. Irritiert greift er nach seiner Zeitung. Uns stößt die braune Soße auf. „Ja, meine Gute“, zur Kundin und „eine zersetzende Zeitung, die Tageszeitung, die hab ich mal in der U-Bahn mitgelesen“, zu uns. „Halt, Ihr Wechselgeld“, ruft sie der Kundin hinterher. „Ist Trinkgeld“, meint diese mit mitleidigem Blick auf die bucklige Zeitungsverkäuferin. Die Alte greift ihren Faden wieder auf. „Alle sollen abtreiben, das steht da drin.“ Wir gehen, und zeitverzögert gelangt ins Gehirn, was die Alte hinter uns herspricht, in die sanfte Mädchenstimme verpackt: „Im Islam sind die Frauen Gebärmaschinen, aber die Deutschen sterben aus.“

Petra Schrott