Mauer vergessen?

■ Auf der Suche nach einem Standbild

13. August? Da war doch was - früher. In froher Erwartung des üblichen Kalter-Krieg-Klimbims durchforsche ich die Programme von Ost bis Privat und werde enttäuscht auf ein ZDF-Feature zur Kinderstunde zurückgeworfen (14.45 h), noch dazu erst am Sonntag, wo doch schon alles vorbei ist („9862 Tage danach“). Die Mauer ist offenbar so normal geworden, daß sie keinen mehr aufregt. Dieses trügerische Schweigen! Die Berliner Regierungen werden sich doch nicht heimlich verständigen, sie vergessen und abreißen zu lassen wie die anderen Kunstwerke, die nicht in den Zeitgeist paßten, wie das Hohenzollernschloß, die Gestapogebäude, die Wildnis auf dem Gleisdreieck? Der emanzipierte Umgang mit Geschichte gehört bekanntlich nicht zu den Stärken der Berliner, sie kippen am liebsten meterdick Beton über ihre Schandtaten und meinen dann, die Geister der Vergangenheit ließen sich so beerdigen. Beispiel Kurfürstenstraße 116. Dort war Eichmanns Büro, das Grundstück wurde bis in den letzten Winkel sinnlos zubetoniert, heute stürzen sich aber gelegentlich Selbstmörder aus dem 10. Stock des Hotelturms darüber, der genius loci wacht.

Am 13.8. gab es früher im Fernsehen zuverlässig „Geschichte objektiv“, d.h. die propagandistischen Verzerrungen von beiden Seiten hielten sich die Waage. Östlich-stramme Betriebskampfgruppen schützten die Bauarbeiten zusammen mit plattbehelmten NVA-Soldaten, von denen gelegentlich einer malerisch über Stacheldraht sprang, sofern eine westliche Kamera zugegen war. Unser Eberhard Diepgen war krimineller Fluchthelfer und buddelte schon damals Tunnels im Untergrund. Es wurde viel geschossen und getötet, darunter dreißig DDR-Grenzer, bisweilen von Westen her. Und hunderte Ostler, denen AEG-Lavamat und Volkswagen ihr ganzes Leben wert war, die wahren Märtyrer der Konsumideologie. Es gibt eine Filmaufnahme von dem CDU-„Vertriebenen„-Minister Ernst Lämmer, wie er im Schutz der US-Panzer am Checkpoint Charlie spuckend und gestikulierend die Grenzlinie übertreten will; GIs müssen den Irren mit Gewalt daran hindern, den Dritten Weltkrieg auszulösen. Und bekannt ist mittlerweile, daß die Abschottung die Idee von J. . Kennedy war, der sie Chruschtschow bei seinem USA-Besuch empfahl, um die DDR -Auspowerung mit friedlichen Mitteln zu stoppen. Ich weiß noch, wie meine Eltern zum Essen, Friseur und Zuckerkaufen vor '61 regelmäßig mit Schwarzgeld in den Osten fuhren und so mithalfen, die hundert Milliarden Schäden anzurichten, die die DDR ökonomisch bis heute zurückwarfen. Eine geplante Wirtschaft mit heruntersubventionierten Lebensmitteln und teuren Industriewaren in Konfrontation mit einem „freien“ expandierenden Markt, da ist klar, wer die ersten fünfzig Jahre immer gewinnen wird. Diese Zahlen übrigens kann, obwohl sie im Neuen Deutschland stehen, ruhig glauben, das (CDU-nahe) Weltwirtschaftsinstitut in Kiel gelangte schon in den siebziger Jahren zu Schadensberechnungen ähnlicher Größenordnung. Den größten Anteil daran hatte der ständige Aderlaß zunehmender „Flüchtlingsströme“, z.T. von der West -Industrie durch gezielte Abwerbung von Facharbeitern verstärkt. Nach dem Mauerbau entdeckte man im Westen prompt den „Bildungsnotstand“ und mußte „Gastarbeiter“ aus Südeuropa einführen, man mag an diesen beiden uns heute noch umtreibenden sozialen Problemen ermessen, wie gewaltig die unfreiwillige Hilfeleistung der DDR beim Aufbau unseres Wirtschaftswunders bis 1961 war.

Die Mauer heute, das ist der einzige ruhige Platz in Berlin. Stundenlange Spaziergänge, unbelästigt von kontrollierenden Zivil- und Uniformpolizisten (West), das ist im Zuge der Kewenigschen IWF-Vorbereitung in Kreuzberg nur noch auf dem schmalen Grenzstreifen vor der Mauer möglich. Schön war der Mythos vom Kubat-Dreieck, zweihundert junge Leute flüchten vor den Gasgranaten des westdeutschen Polizeistaates in umgekehrter Richtung, aber diese Sensation ist der Weltpresse keine Zeile mehr wert. Der Gang vom Kinderbauernhof zur Schinkelschen Thomaskirche, vorbei an der durch Geisterhand abgebrannten Ökokita, vorbei an der gefährdeten Wagenburg der Neuen Zigeuner, vorbei an dem vor zwanzig Jahren besetzten Georg-von- Rauch-Haus, das nach einem erschossenen „Terroristen“ so heißt, und wo vielleicht gerade Seeräuber-Jenny aus dem Dachfenster schaut, das alles ist eine „linke Idylle“, die in ganz Europa nicht ihresgleichen hat - beschützt von der Mauer. Durch die immer neuen Übermalungen von Menschen aller Länder, aller Stile und aller politischen Lager ist die Mauer heute Europas größtes lebendes Kunstwerk, sie schafft Stile, ästhetischen Raum und ihre eigene Zeitrechnung, sie ist friedfertig, defensiv und nützlich. Also laßt bloß die Mauer stehen! (Gegen ein paar freie Durchgänge in beiden Richtungen wäre natürlich nichts einzuwenden...)

Dr. Seltsam