Schokolade für den Prinzen

■ Patrice Chereau beim Theaterfestival in Avignon

Sabine Seifert

Es ist heiß. Es ist Ferienzeit. Die 'Le Monde'-Kritikerin gesteht öffentlich ihren Festival-Koller. Der glatzköpfige Ein-Theater-Mann stopft seinen Handzettel schnell entschlossen in den nächsten Papierkorb. Die Telefonzelle nimmt nur noch Notrufe an. Dann kann ich ja ins Kino gehen, sagt der junge Schweizer Zuspätkommer.

Kaum ist man raus aus Paris, ist man auch schon wieder drin. Tout Paris trifft sich in der Sommerunfrische, schon vor dem Urlaub braun. Welch ein Theater! Ja sicher.

In für rein und Off für raus steht auf den Türen einer Snack-Bar. Die gehen ständig. Berührungspunkte, Reibungspunkte - keine. In und Off meinen es inzwischen gut miteinander. Die Freien sind mehr, die Offiziellen dafür von innerer Größe. Rein oder raus?

Schließlich hat man Karten. Fans haben Schilder mit: „Suche...“ Drinnen macht Chereau „Hamlet“ mit Prince. II

Holz gegen Stein. Horizontal gegen vertikal. Zwei verschiedene Materialien, massiv gegeneinander gesetzt. Das Bühnenbild liegt wie eine umgekippte Hausfassade flach auf dem Rücken, sein dunkelbraunes Holz ist schwärzer als der Stein der altehrwürdigen Mauern, die den Innenhof des Papstpalastes einfassen. Ein riesiges Verlies, in das 2.200 Zuschauer passen. Die Balustraden reichen nur in Zweidrittel -Höhe der Wände. Der Himmel steht wie immer hochoben und ist abendblau. Der Ort ist eine Herausforderung für Patrice Chereau, den Regisseur. Mehr noch als „Hamlet“, das Stück. Er hat Hilfe. Richard Peduzzi hat die Bühne konzipiert, die wie eine Seelenlandschaft zu lesen ist. In der Oberfläche ist eine Art Mosaik eingelassen, aus verschiedenen Holztönungen, in Nuancen auszuleuchten. Einzelne Blöcke der leicht nach hinten hochlaufenden Holzrampe sind ausfahrbar oder versenkbar, bilden immer neue Spielorte, immer neue Fallgruben der Seele. Und Chereau hat seinen Helden, dem er wie dem Ort verfallen ist. Gerard Desarthe interpretiert Hamlet, Hamlet interpretiert das Stück, das Stück interpretiert die Welt. Die anderen Figuren flachen ab am Rande dieser egozentrisch gebauten Welt. Das hat Logik bei Chereau. Dennoch müßte die Blässe der anderen Figuren, schließlich keineswegs alles Nebenrollen, immerhin sichtbar sein. Die Creme de la creme zerfällt schnell.

Nichts zerläuft, wenn Hamlet im Zentrum des Geschehens steht. Gerard Desarthe ist jungenhaft schlacksig, in bürgerliches Schwarz gekleidet, sein Gesicht ist hager und nicht mehr ganz jung, seine Stimme klingt scharf-ironisch, manchmal fast manieriert. Er drängt, zynisch und kräftig, dirigiert, führt Regie. Beim Spiel im Spiel, das seinen Onkel Claudius, Mörder seines Vaters, überführen soll. Die Schauspieler sind seine Freunde, Exilanten, die, in grauen Wintermänteln und mit Koffern wie Flüchtlinge der dreißiger Jahre ausstaffiert, von Hof zu Hof reisen.

Hamlet läßt den Hofstaat Dänemarks die Ermordung seines Vaters durch seinen Onkel und dessen anschließende Vermählung mit seiner Mutter vorspielen. Erst eine stumme und dann eine gesprochene Version. Zur stummen ertönt Musik von Prince für den Prinzen, die Schauspieler agieren mit großen Gesten wie im Stummfilm. Die gesprochene wird durch den Abgang Onkel Claudius‘ abgebrochen. Ertappt.

Das schlechte Gewissen funktioniert bereits, auch wenn man noch an Geister glaubt. Zwischen den Zeiten sieht Chereau seinen Hamlet, wo Altes und Neues in- und durcheinander wirken, wie es vielleicht in der Renaissance, zwischen Mittelalter und Neuzeit war. Hamlet fällt aus der alten Ordnung heraus und ist ihr doch noch hörig. Dem Vergeltungsauftrag seines Vaters, dem alten Rachegeist (Wladimir Yordanoff), der auf einem Pferd in bläulich schimmerndem Licht in den Hof bzw. auf die Bühnenrampe geritten kommt, kann er sich nicht entziehen. Aber er wird ihn auch nicht erfüllen, er wehrt sich, er wird verrückt.

Die psychoanalytische Variante ist in diese Interpretation eingeschlossen, schließlich hat Freud an Hamlet seinen Ödipus studiert. Die Überidentifikation mit dem Vater. Die Lust auf die Mutter (Marthe Keller), den übertragenen Haß auf Ophelia (Marianne Denicourt). Jede Frau eine Mutter, eine Hure, alles da (bei Chereau gleichzeitig die schwächsten). Doch wenn Hamlet die Mutter und selbst den verhaßten Stiefvater küßt, dann ist das weniger die eng psychoanalytische Variante, sondern geschieht vielmehr, weil er niemand anderen hat. Er ist grenzenlos allein, grenzenlos Ich. III

Er hat Montaigne wiedergelesen, erzählt Chereau. Der Skeptizismus habe ihn bei Hamlet fasziniert, das beschäftige ihn zur Zeit überhaupt am meisten. IV

Roter Faden im Festivalführer. Der Herr Direktor. Seit sechs Jahren leitet Chereau das Theater Nanterre-Amandiers bei Paris, kurz hinter der Trabantenstadt La Defense gelegen. Daran angeschlossen eine Schauspielschule, pro Jahrgang circa zwanzig Eleven, geleitet von Pierre Romans. Romans gastiert mit ihnen in Avignon. Zusammenschnitt von verschiedenem Tschechow zu „Chronik am Ende eines Nachmittags“ (Croniques d'une fin d'apres-midi), wo ein bißchen zuviel in- und auseindergelaufen wird. Der Filmregisseur. Dazugehörig ein Film-Atelier, wo Chereau 1987 „Hotel de France“ realisiert, entstanden aus einer „Platonov„-Einstudierung (Tschechow) mit den Schauspiel -Eleven. Der Magnet (oder sagt man Magnat?). Nanterre hat Sonderstatus als künstlerisches Produktionszentrum, von Chereaus Vorlieben und Abneigungen geprägt. Fester Mitarbeiterstab, kein geschlossener Zirkel. Der Schauspieler. Spielt in Avignon noch einmal die Rolle des Dealers „In der Einsamkeit der Baumwollfelder“ von Koltes. Der Regisseur. Wird diesen Herbst das vierte Stück von Bernard-Marie Koltes, „Die Rückkehr zur Wüste“ (Retour au desert) inszenieren. Arbeitet immer wieder mit Richard Peduzzi, dem Bühnenbildner.

Der Produzent.

Zum Beispiel von Luc Bondys „Wintermärchen“, für das Peduzzi ebenfalls das Bühnenbild gemacht hat. Wieder Holz, deutsche Eiche oder so. Die massiven Holzelemente stehen diesmal senkrecht hoch und sind damit die vertikale Entsprechung zur „Hamlet„-Bühnenkonstruktion; ebenso Abstraktion, die in Architektur umgesetzte Idee eines Stückes. Die einzelnen Holzblöcke, in alte Zeit und Länder, nach Böhmen am Meer, versetzend, sind so mächtig und hoch, daß sie zugleich an seelenlose Großstadt-Architektur erinnern. Ich habe die Inszenierung mit Michel Piccoli und Bulle Ogier in den Hauptrollen in Avignon nicht noch mal gesehen. In Nanterre, dem modernen Theaterbau, erschien sie mir trotz der guten Schauspieler steril. Bondy: „Ich bin eher Impressionist, er (Chereau) ist eher Expressionist.“

Produziert auch das seltsame Stück des Schauspielers Daniel Emilfork, in dessen Gesicht eigentlich alles zu groß ist. Emilfork guckt traurig, bittend, lächelnd und ein bißchen verrückt. Wie sein Stück „Der Tag der Schuhe“, von dem ich wegen der privaten Verschlossenheit nichts verstanden habe, außer daß es wichtig ist, Geschichten aus der Kindheit zu erzählen. Zettel in den Papier korb schmeißen und dabei Namen aufzählen. „Anwesend“ oder „abwesend“? VI

1976 sorgten sie zusammen für Skandal in Bayreuth, Pierre Boulez und Patrice Chereau. Avignon hat keine Oper. Boulez steht im Steinbruch und dirigiert den Dialog mit der Elektronik. „Repons“ für Orchester und Solisten, der „Dialog mit dem doppelten Schatten“ für Klarinette solo. Computergesteuerte Anlage. Tolle Akustik - wagt keiner zu sagen, als das Konzert in der freien Natur zu Ende ist. VII

Chereau, Nanterre - eine Galaxie, wie man dieses Jahr in Avignon sagt. Es gibt auch noch andere Galaxien hier. Aber von einem Sternensystem zum anderen ist es weit.