Abschied von Jalta Ein Schriftstellertreffen diskutierte in West-Berlin über Ein Traum von Europa

Abschied von Jalta

Ein Schriftstellertreffen diskutierte in West-Berlin über

„Ein Traum von Europa“

In Moskau verhandeln die Supermächte über den Rest der Welt. Vertreter eines Teiles davon trafen sich am Wochenende in West-Berlin. Ihr zentrales Thema: der Abschied von der Zweiteilung der Welt, die mit dem Namen der Jalta-Konferenz vom Februar 1945 verbunden ist. Darüber ein Bericht, außerdem kurze Auszüge aus zwei Vorträgen mit jeweils sehr eigenwilligen Blicken auf Europa. Harry Mulisch, geboren 1927, lebt als freier Schriftsteller in Amsterdam, Libuse Monikova, geboren 1945 in Prag, seit 1971 in der BRD. Alle Beiträge der Konferenz „Ein Traum von Europa“ werden im Herbst im „Literaturmagazin“ bei Rowohlt erscheinen.

Als vor wenigen Jahren ein paar Intellektuelle aus Osteuropa begannen, die in Jalta befestigte Zweiteilung der Welt in Frage zu stellen, waren sie nichts als ein paar verrückte Sonderlinge. Don Quijote und Sancho Pansa: ein in Paris lebender Emigrant aus Prag - Milan Kundera - und ein Oppositioneller aus Budapest György Konrad - bildeten sich ein, eine der tragenden Säulen des status quo dieser Welt ansägen zu können.

Das Konzept „Mitteleuropa“, bis dahin - mit der fast einzigen Ausnahme des Triestiner Claudio Magris - eine Domäne der alten Rechten, wurde von ihnen wiederbelebt. In Berlin konnte jetzt Lars Gustafsson erklären, daß es diesen wenigen Intellektuellen inzwischen gelungen sei, „Mitteleuropa“ im Bewußtsein der diskutierenden Öffentlichkeit fest zu verankern. Wie die Frauenbewegung es erreicht hat, daß kaum noch ein Redner darauf verzichtet, von Schriftstellern und Schriftstellerinnen, von Bürgern und Bürgerinnen zu sprechen, so hätten sie es geschafft, jedem ein schlechtes Gewissen zu machen, der weiter von Osteuropa spreche, statt es zu Mitteleuropa zu zählen. Einer der größten Erfolge auf dem Gebiet der semantischen Kriegsführung in den letzten Jahren.

Seit Jalta heißt es West- und Osteuropa. „Mitteleuropa“ ist der Begriff, der den Abschied von Jalta einläutet. In Berlin wurde darüber nicht mehr diskutiert. Es war die selbstverständliche Voraussetzung aller Beiträge. Die Karriere eines Schlagwortes war selten so deutlich zu beobachten wie hier. Weniger einig war man sich über die ersten praktischen Schritte. Da gab es die Forderung nach vollständiger Anerkennung der DDR durch die BRD (unter anderen von Helga M.Novak), die heftig debattiert wurde. Hans Christoph Buch hielt dem entgegen, das Recht auf Selbstbestimmung, das man in El Salvador und Afghanistan einklage, müsse auch für die Deutschen gelten. Eine Anerkennung des Regimes der DDR sei ganz sicher kein Schritt in diese Richtung. Das hat damit nichts zu tun, entgegnete ihm Cohn-Bendit, Deutschland habe den Zweiten Weltkrieg angezettelt, der Preis dafür sei die Teilung. Die Frage der Freiheit in der DDR hat nichts mit der Wiedervereinigung zu tun. Die Länder unter sowjetischer Hegemonie müßten um diese Freiheit kämpfen.

Der „Traum von Europa“, um den es auf dieser Konferenz ging, war ein Europa der Demokratien. Ein Europa aber auch, zu dem Polen und die CSSR, Ungarn und Rumänien ebenso gehören wie Portugal und die Sowjetunion. Ein schöner Wunsch? Einiges spricht freilich, grade in Moskau und Budapest, dafür, daß man seiner Realisierung näher kommt. Gorbatschows Rede vom „gemeinsamen europäischen Haus“ klingt nicht nach Bedrohung, wie sie es aus Stalins Mund getan hätte, sondern könnte eine Entkrampfung der Beziehungen einleiten.

Ein Traum von Europa mehr als ein schöner Wunsch? Kum'a Ndumbe III. aus Kamerun sieht die Sache ganz anders. Ein Vereintes Europa ist für ihn der Alptraum der Dritten Welt. Die mächtigste Wirtschaftskraft der Welt würde sicher nicht plötzlich auf Altruismus umstellen. Die Vereinigten Staaten von Europa sind - ob sie es wollen oder nicht - eine Kriegserklärung an den Süden der Welt. Der Ost-West-Konflikt scheint den Nord-Süd-Konflikt in Grenzen zu halten. Und ein vereintes Europa - im Sinne des „Traums von Europa“ - ist ohne die Abschwächung des Ost-West-Gegensatzes nicht zu denken.

Ein Einwand, der auch deutlich macht, wie europäisch die deutsche Frage ist. Was Kum'a Ndumbe III. aus Kamerun über Europa sagte, könnte Monsieur Dupont über Deutschland gesagt haben: Ein wiedervereintes Deutschland ist lebensgefährlich für Europa. Beider Erfahrungen sprechen eindeutig für diese Auffassungen. Der Traum von Europa - ein Alptraum? Arno Widmann