Abrüstung: Nützt ein dritter Gipfel?

■ Moskaus Außenminister Schewardnadse zu Besuch in Washington / Mühsame Euphorie des Weißen Hauses

Von Michael Fischer

Friedensfürst Ronald Reagan wird heute im persönlichen Gespräch mit seinem Außenminister Shultz und dessen sowjetischem Amtskollegen Schewardnadse in Washington versuchen, die noch für ein Abkommen über den weltweiten Abbau aller nuklearen Mittelstreckenraketen bestehenden Hindernisse zu beseitigen. Von einem solchen Abkommen, das vielleicht noch in diesem Jahr bei einem dritten Gipfel Reagan– Gorbatschow unterzeichnet werden könnte, erhofft sich Reagan eine Aufwertung seines durch den Irangate– Skandal angeschlagenen Images. Die vom Weißen Haus verordnete Euphorie, daß dank Reagan das erste wirkliche Abrüstungsabkommen seit dem Beginn des Atomzeitalters abgeschlossen werden kann, verdeckt jedoch die schwierige Verhandlungsrealität. Auch nach dem bedingten Verzicht Bundeskanzler Kohls auf die 72 bundesdeutschen Pershing 1A stehen der Verwirklichung des Abkommens große Hindernisse im Wege. Fortsetzung auf Seite 6 Selbst Schewardnadse, Shultz und Reagan wird es schwerfallen, diese Bremsklötze beiseite zu räumen - zu groß sind die Meinungsunterschiede der Supermächte bei Fragen der Verifizierung und des zeitlichen Ablaufs der Verschrottung auch der Pershing–1a– Sprengköpfe. Die vorgegebene Bedeutung des Abkommens ist zweifelhaft, denn nur knapp 2.000 atomare Sprengköpfe wären von dem Vertrag betroffen, lediglich drei Prozent der inzwischen aufgehäuften Arsenale. Zudem steht nicht die tödliche Fracht zur Disposition, sondern die sie transportierenden Raketen - 316 im Westen und 725 im Osten. Den Supermächten bleibt es überlassen, was sie mit den Sprengköpfen machen wollen. In den jetzt vorliegenden Vertragsentwürfen streiten sich die Kontrahenten lediglich über die Frage, was mit den Raketen passieren soll, ob sie abgezogen, zerlegt oder gar zerstört werden müssen. Trotzdem verbinden sich mit einem möglichen Mittelstreckenraketen–Abkommen große Hoffnungen. Begeistert wird es als Ausstieg aus dem mörderischen Rüstungswettlauf gewertet, das weitere Abrüstungsschritte in anderen Bereichen wie den atomaren Kurzstreckenraketen und strategischen Waffen ermöglichen kann. Dabei wird allerdings vernachlässigt, daß die landgestützten Euro–Raketen im globalen Kräftemessen der Supermächte inzwischen zur politischen Verhandlungsmasse geworden sind, weil insgesamt 9.000 see– und luftgestützte Cruise–Missiles der NATO–Staaten ihre militärische Funktion übernehmen. Auch sonst sind Zweifel an der plötzlichen Friedfertigkeit der Supermächte angebracht. Durch eine Begradigung ihrer militärischen Fronten versucht die Sowjetunion, die zur Modernisierung ihrer angeschlagenen Wirtschaft unbedingt notwendigen Ressourcen freizusetzen. Den USA gibt das Abkommen die Chance, die lästige „Ankoppelung“ der Verteidigung Europas an die der USA zu reduzieren. Das Konzept der nuklearen Abschreckung verliert für die Hardliner an Bedeutung. Leute wie der US– Chefunterhändler in Genf, Nitze, und Rüstungsminister Weinberger halten paradoxerweise die Rüstungskontrolldiplomatie für „eine lästige Religion“, sind aber für das Mittelstreckenraketen– Abkommen, weil sie dadurch dem Eskalationsverbund zwischen den USA und Europa eine Ende machen können. Ihnen schwebt statt dessen eine durch SDI unverwundbar gemachte „Festung Amerika“ vor, von der aus die Sowjetunion in Schranken gehalten wird und regionale Kriege erfolgreich ausgetragen werden können. Auf Seite 9 beginnt heute eine mehrteilige Serie zur Bedeutung eines Abkommens: „Abrüstung oder Umrüstung“.