Abrüstung oder Umrüstung

Freudige Überraschung herrschte bei den aufgeklärten Geistern der Republik, als Kanzler Kohl letzte Woche von seiner Richtlinienkompetenz Gebrauch machte und den Traum seiner Stahlhelmfraktion von einer eigenen Atommacht zerstörte. Gewiefte Experten interpretierten die Entscheidung Kohls, auf die Modernisierung der 72 Pershing 1A zu verzichten, als geschickten Schachzug bei den anstehenden Wahlen in Schleswig– Holstein und Bremen. Der Stern meldet dagegen, daß zwar Kohl gesprochen, Reagan aber bereits am Vortag entschieden hatte. Dies wäre eine so unglaubliche Brüskierung des treuesten Verbündeten, daß es schwer fällt, der vom Stern gemeldeten Interpretation der Anfang der Woche von der US–Regierung in Genf vorgelegten Vorschläge zu glauben. Gleichzeitig ist es allerdings nichts Neues, daß wir in einer Bananenrepublik leben. Von Interesse ist dabei ledig lich, in welchem Maße deutscher Untertanengeist dieser Situation Vorschub leistet. Denn während der innenpolitische Streit um die Pershing 1A die Gemüter aufs heftigste erregt, wird die Diskussion über die Bedeutung und die Konsequenzen des von den beiden Supermächten angestrebten Mittelstreckenraketen–Abkommens vernachlässigt. Die einmalige Chance, das Wettrüsten zu beenden, müsse genutzt werden. Deshalb wird von Initiativen gefordert, wir sollten für den Abbau der 72 Pershings demonstrieren. Ist es neuerdings die Aufgabe der Friedensbewegung, die Schmutzarbeit der Rüstungsstrategen zu besorgen? Kohls Atommacht–Fraktion stand der Verwirklichung eines Abkommens im Wege, das zwar als Abrüstungsvertrag gefeiert wird, tatsächlich aber den Weg für einen neuen Rüstungsschub vorbereitet. Das Abkommen markiert einen Wendepunkt im Nachkriegs–Verhältnis zwischen den USA und Europa. Aus geostrategischen und wirtschaftlichen Gründen wird die US–Regierung in den nächsten Jahren ihre militärische Präsenz in Europa verringern. Führende Politiker beider Parteien in den USA wie Vize–Präsident Bush und Senator Nunn propagieren inzwischen die populäre Forderung, Truppen aus dem verteidigungsmüden Europa abzuziehen. Sie versprechen sich dadurch eine Sanierung der hoffnungslos verschuldeten Staatskasse und eine stärkere Präsenz ihrer Truppen in Krisengebieten wie dem Nahen Osten. Das Mittelstreckenraketen– Abkommen steht am Anfang dieses Prozesses. Deutlich wird, daß die Raketen von geringer strategischer Bedeutung waren. Vielmehr dienten sie als Verhandlungsmasse im globalen Kräftemessen der Supermächte. Die Euro–Raketen haben ihren Dienst erfüllt: die Sowjets sind trotz SDI an den Verhandlungstisch zurückgekehrt, Reagan geht als „Friedenspräsident“ in die Geschichte ein und die US– Rüstungsindustrie hatte für mehrere Jahre volle Auftragsbücher. Doch der Raketen–Markt ist ausgereizt, die Rüstungsbudgets der NATO–Staaten stagnieren oder sinken gar, obwohl neue, nicht–nukleare „Wunderwaffen“ in den Rüstungsfirmen auf ihre Massenproduktion warten. Die Änderung dieses Trends wird langfristig vorbereitet. Die Drohung mit der konventionellen Übermacht des Ostblocks dient moderaten Republikanern und konservativen Demokraten dazu, ihre Zustimmung zu dem von Reagan und Gorbatschow gewünschten Abkommen von stärkeren Rüstungsanstrengungen der europäischen Verbündeten abhängig zu machen. Neokonservative Organisationen wie die Washingtoner Heritage Foundation sehen in dem Rückzug von US–Truppen aus Europa eine „Schocktherapie“, um in der europäischen Öffentlichkeit eine nationalistisch–militaristische Reaktion zu provozieren. Auch in Europa drängen atomrüstungsmüde Parteien wie die britische Labour–Partei auf eine Modernisierung der konventionellen Streitkräfte. Für die größte Massenbewegung in der Geschichte der Bundesrepublik ist es Zeit, aus ihrem Winterschlaf zu erwachen und sich über die veränderte Situation klarzuwerden. Dabei wird es jedoch wenig helfen, gebannt auf die Verhandlungen zu starren, voller Euphorie über die neue „Friedlichkeit“ Gorbatschows und Reagans. Noch hilfloser ist der Aufruf, Pershing 1A–Depots der Bundeswehr zu blockieren und sich dadurch zum Erfüllungsgehilfen der Militärstrategen zu machen. Warum nicht aus alten Fehlern lernen. Die Orientierung der eigenen Forderungen an den Positionen der Supermächte ist gefährlich, wie es die letzten Entwicklungen gezeigt haben. Gleichzeitig erhöhen die sich abzeichnenden Veränderungen im Verhältnis der Supermächte untereinander und zu ihren Satelliten die Chance, Ansatzpunkte für eine eigenständige Politik zu finden. Michael Fischer