Schokolade für Mostar

Die EU berät einen Marshallplan für das Kosovo und den Balkan. Erst seit kurzem schweigen dort die Waffen. In Bosnien-Herzegowina, dem Nachbarstaat Jugoslawiens, sind schon vier Jahre seit dem Friedensvertrag von Dayton vergangen. Der schleppende Aufbau und das Mißtrauen zwischen den Ethnien verhindern eine optimistische Zukunftsperspektive. Ein Stimmungsbild aus Mostar, der bosnischen Provinzmetropole an der Neretva zeichnet Ilija C.Hendel (Text und Fotos)

Sudo Krpos Brustkorb schmerzt bei schlechtem Wetter: Die Rippen wurden ihm gebrochen im Krieg. Müde sitzt er in seinem Café, wo der Mokka nur 50 Pfennig kostet. Nach dem Krieg hatte er am Marktplatz im Ostteil von Mostar ein Büro eingerichtet und koordinierte für verschiedene Organisationen deren humanitäre Hilfe in der Stadt; verteilte Lebensmittel und Medikamente, kümmerte sich um Angehörige gefallener Soldaten der bosnischen Armee. Je mehr in Mostar eine oberflächliche Normalität einkehrte, desto geringer wurden die Spenden, und es gab weniger zu koordinieren für ihn. Sudo Krpo schloß sein Büro und eröffnete ein Café. Eines von vielen, die es schon wieder gibt in Mostar.

Aus den Cafés und Bars tönen westliche Popmusik und Stimmengewirr. Auf der Straße flanieren die Menschen: Die Männer in den Turnschuhen mit den drei Streifen, die Frauen in eleganten Kleidern; kürzlich hat auch die erste Benetton-Filiale in Mostar eröffnet. Die nahe Mostar stationierten SFOR-Soldaten sind nur noch vereinzelt zu sehen. Noch vor zwei Jahren mußten die SFOR-Einheiten schwer bewaffnet die ehemalige Frontlinie zwischen dem kroatischen Westen und dem muslimischen Osten sichern.

Die tiefe Spaltung, die der Krieg hinterlassen hat, war unübersehbar. „Ohne die SFOR-Präsenz an der Grenzline zwischen Kroaten und Moslems würde der Krieg bald wieder losgehen“, faßte noch vor zwei Jahren der spanische SFOR- Hauptmann Gonzales die Stimmung in der Stadt zusammen. Heute erinnert eine Friedenstaube aus Stein an die spanischen SFOR-Bewacher, und Oberstleutnant Zettel vom deutschen Kontingent der Schutztruppe verteilt aus einer großen Tüte Schokolade an die Kinder. Der Frieden scheint zurückgekehrt zu sein.

Vom nahen Konflikt im Kosovo ist in der 110.000-Einwohner-Stadt an der Neretva kaum etwas zu spüren. „Für die meisten Deutschen ist plötzlich die ganze Region Kosovo“, klagt dagegen Torsten Klette, beim Deutschen Industrie- und Handelstag in Bonn für die Wirtschaftsbeziehungen mit Bosnien-Herzegowina zuständig. Der ganze Balkan sei in der Wahrnehmung wieder zum Krisengebiet geworden, als die Luftschläge gegen Jugoslawien begonnen hatten und in den Leitartikeln schon das Ende vom zerbrechlichen Friedensprozeß in Bosnien-Herzegowina beschworen wurde.

Die zaghaften privaten ausländischen Investitionen sind durch den Krieg im Kosovo wieder bei Null angelangt. Und der Markt in Jugoslawien, dem Hauptabnehmer der in Bosnien-Herzegowina und der Republika Srpska produzierten Güter, ist durch den Krieg zusammengebrochen. So ist die fehlende wirtschaftliche Perspektive eine ernste Gefahr für den labilen Frieden in Bosnien geworden. Nachdem dieses Staatengebilde aus der Föderation Bosnien-Herzgowina und der Republika Srpska von den ehemaligen Kriegsparteien 1995 in Dayton beschlossen worden war, ging es nicht nur darum, ein kriegszerstörtes Land wieder aufzubauen, sondern gleichzeitig um den Umbau des Systems von der Staats- auf die Marktwirtschaft. Christian Clages vom Bundeskanzleramt mahnt daher auch, es gehe nicht um die Herstellung einer Situation, wie sie vor dem Krieg einmal war, sondern um den Aufbau eines völlig neuen Staates mit einem neuen Wirtschaftssystem. Wie schwierig dieser wirtschaftliche Umbau ist, zeigen die Probleme in den anderen osteuropäischen Staaten, wo kein Krieg die Infrastruktur zerstört hat.

Auch Sudo Krpo wird unruhig, wenn er an die Zukunft denkt: Angst bereite ihm vor allem der soziale Krieg. Die Ungleichheit in der Stadt sei die viel größere Gefahr für Mostar. Die Trennung zwischen dem weniger in Mitleidenschaft gezogenen kroatischen Teil und dem muslimischen, in dem die Hälfte aller Gebäude beschädigt oder zerstört ist; zwischen den Rückkehrern und den Dagebliebenen; zwischen Kriegsgewinnern und -verlierern. Der Krieg hat nicht nur die Häuser, Straßen und Brücken zerstört, sondern auch die Seelen der Menschen. Vor dem Krieg war Mostar eine lebendige Stadt: Theater gab es, Kinos, eine Universität. Die Agrarkooperative „Hepok“ versorgte die Bevölkerung mit Fleisch, Gemüse, Obst und Wein; die historische Altstadt mit der berühmten Stari Most zog Touristen aus aller Welt an. Ein Flugzeugwerk und eine Aluminiumfabrik boten Arbeit für 10.000 Ingenieure und Arbeiter. Die Fabriken liegen heute auf der kroatischen Seite der auf dem Papier geeinten Stadt, wiederaufgebaut mit deutschen und italienischen Investitionen. Nur: Kein bosnischer Muslim kann dort arbeiten, bei den alten Kriegsgegnern. Zu schwer wiegt das Mißtrauen zwischen den Ethnien.

Von der historische Brücke sind nur ein paar Steine aus der Neretva geborgen worden. Viel zu wenige für die geplante Rekonstruktion. „Ein Witz ist das“, sagt Sudo. Und die Weinstöcke und Felder? Sie sind verbrannt im Krieg. Und Cimic, die Aufklärungseinheit der Bundeswehr, warnt vor einer zwei bis drei Kilometer breiten Minenzone, die sich von Mostar in Richtung Osten erstreckt. Keine Landwirtschaft, keine Produktion: Mit Hilfe eines EU-Existenzgründungsprogramms wurden fast nur Cafés und Minimarkets eröffnet.

Zehn Mark am Tag verdienen die Angestellten dort. Viel zuwenig, um davon zu leben, denn die Preise sind ähnlich hoch, wie sie in Deutschland gezahlt werden müssen. Das Überleben sichern vor allem die Ersparnisse von Rückkehrern, die in Westeuropa gearbeitet haben. Aber das ist schnell aufgebraucht. Goran ist 21 Jahre alt und hat in Deutschland eine Ausbildung zum Koch absolviert. Sein Chef wollte ihn wohl behalten. Die Abschiebung von Goran und seiner Famile konnte er jedoch nicht verhindern. Seit April 1997 lebt Goran nun wieder in Mostar. Eine Arbeit findet er nicht. Die Geschäfte der Cafés und Bars gehen schlechter: Es sind immer mehr geworden, und die Karawane der zahlungskräftigen Mitarbeiter von internationalen Organisationen ist weitergezogen.

„Das ist alles Scheiße hier“, sagt Goran mit leicht schwäbischem Akzent. Wie sein Tag aussieht? „Schlafen, fernsehen, schlafen und einmal am Tag ins Café.“ Dort sitzt er dann wie so viele andere bei einer Tasse Mokka und dem Glas Wasser, das es dazu gibt. Für mehr reicht das Geld nicht. Goran hat ausgerechnet, daß die Ersparnisse seiner Familie im Laufe des Juli aufgebraucht sein werden. „Dann gibt es wieder die Suppenküche vom Roten Kreuz.“ Von denen, die im Krieg in der Stadt geblieben sind, werden sie nicht sehr gemocht, die Rückkehrer. „Sie haben nicht für ihre Stadt gekämpft, und jetzt kommen sie sogar noch mit etwas Geld zurück“, klagt Sudo, der ehemalige Kämpfer der bosnischen Armee.

Es ist nur eine Trennlinie von vielen, die sich durch die Stadt zieht, ihre Bewohner trennt. Unterdessen bemüht sich die Kantonsverwaltung, Investoren zu finden. Aber nur wenige wollen in kriegszerstörte Firmen investieren. Und so sucht die Verwaltung auch weiterhin nach Spendern. Ausländischen Besuchern werden ein paar lose Kopien in die Hand gedrückt. Sie tragen Überschriften wie: „Programm für die Frühlingssaat“. Hier ist das Nötigste aufgelistet, um den Aufbau einer landwirtschaftlichen Selbstversorgung zu ermöglichen: 600 Kilo Weizen für 360 Mark, zwei Tonnen Hafer für 1.600 Mark, 25 Tonnen Kartoffeln für 25.000 Mark werden für den Bezirk Mostar benötigt. Im Vorspann heißt es: „Die Nahrungsmittelspenden können ersetzt werden durch Investitionen in die Nahrungsmittelproduktion, die damit einen langfristigen Aufbau sichern.“ Das Papier ist vom Dezember 1998. Heute wird der Besucher verabschiedet mit den Worten: „Vielleicht finden Sie einen Donator für uns.“ Für die Frühlingssaat ist es da aber schon wieder zu spät.

Ilja C. Hendel, 28, arbeitet als freier Fotojournalist in Freiburg. Seit seinem ersten Besuch in Mostar 1997 verfolgt er den Wiederaufbau der Stadt.