Die Arschlöcher sind anderswo

Widersprüche, Bruchlinien, Schicksale: Eine geschichtsschwere Berliner Dokumentation bemüht sich um ein differenziertes Bild der Entwicklung von Kunst und Künstlern in der DDR  ■ Von Michael Nungesser

Ein Knietisch, das ist es, was die Herausgeber des kiloschweren Buchungetüms zur Erleichterung der Lektüre empfehlen. Doch ganz so unhandlich erweist sich das von einer Arbeitsgruppe des Museumspädagogischen Dienstes Berlin in Zusammenarbeit mit der Stiftung Kulturfonds erarbeitete Werk denn doch nicht. Schwerer wiegt der Stoff: Es geht um die Kunst der DDR. Was vorliegt, ist aber keine historische Konstruktion, sondern eine Dokumentation von Widersprüchen, Bruchlinien, Schicksalen. Keine Chronologie wie die von Günter Feist und Eckhart Gillen herausgegebenen Vorläuferpublikationen „Stationen eines Weges“ (1988) und „Kunstkombinat DDR“ (1990), sondern eine um Originaldokumente ergänzte Aufsatzsammlung zu kunstgeschichtlichen Einzelthemen.

Das nun um Beatrice Vierneisel erweiterte Herausgebertrio hat (Kunst-)HistorikerInnen aus Ost und West Fallstudien schreiben lassen, die vor allem das kulturpolitische Umfeld analysieren. Nicht das Werk von KünstlerInnen, aber die Kunst, die in der DDR entstand, ist mit dem Ende der DDR zum Abschluß gekommen. Dieser sich nach außen abschottende Staat, fast ohne Kunstmarkt und private Galerien, geprägt durch wechselnde Kunstdoktrinen, versuchte bis zum Schluß Einfluß auf „seine“ KünstlerInnen zu nehmen. „Nur wenigen Künstlern in der DDR gelang die Überwindung des Zwanges“, so Herausgeber Gillen, „sein Ich in zwei Hälften zu spalten, in eine private und eine öffentliche, und zu sagen: ,Ich habe keine Furcht mehr.‘“ Dieser Konflikt blieb bis zuletzt; 1989 dichtete Durs Grünbein: „Der kranken Väter Brut sind wir, der Mauern Sturzgeburt.“

Kunst aus der DDR bewegte sich in einem Zwangsverhältnis staatlicher Fürsorge. Sie ist, wie Jürgen Schweinebraden schreibt, „zuerst ausschließlich aus den Verhältnissen heraus, in denen sie entstand, zu verstehen, einzuschätzen, zu bewerten und in einzelnen Fällen zu würdigen“. Um die Verhältnisse zu verstehen, bedarf es ausführlichen Quellenstudiums. Das ehemalige Zentrale Parteiarchiv der SED, inzwischen eingegangen in die Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv, stand den Autoren ebenso offen wie weitere bürokratische Hinterlassenschaften: Verfügungen, Parteiprogramme, Stasi-Berichte, Gesprächsprotokolle, Verträge, Zeitungsartikel etc.

Die Themenfülle wird im Buch in sieben Abschnitten gebändigt. Ein erster handelt allgemein von den Beziehungen zwischen „Utopie und Realität“. Es folgen die frühen Jahre, der „Neubeginn im Schatten des Stalinismus“, mit Untersuchungen über die Rolle rückkehrender Exilanten und der Frauen in der Kunst, über Künstler wie John Heartfield oder Dieter Goltzsche, über Galerien oder Städte wie Dresden oder Halle. Einer programmatisch in die Gesellschaft wirken wollenden Kunst entspricht der Abschnitt „Inszenierungen im öffentlichen Raum“ mit Kapiteln über Stalinallee, Denkmäler und Wandbilder. Als einziger Stadt wird Leipzig eine die gesamte Lebensdauer der DDR überspannende Darstellung ihrer Malereigeschichte gewidmet.

Unter dem Stichwort „Weg nach Bitterfeld und andere Wege“ kommen Versuche zur Sprache, die Kunst mit der Arbeitswelt zu verbinden. Es werden aber auch weniger bekannte Kunstlandschaften wie die Mecklenburg-Vorpommerns oder Thüringens vorgestellt. Günter Kunerts Worte „Auf keine Art irgendwelche Hoffnung“ stehen als Motto über Beiträgen zu Versuchen der Selbstbestimmung: Schweinebradens Ost-Berliner Privatgalerie oder die Künstlergruppe Clara Mosch in Karl-Marx- Stadt (Chemnitz) mit den von ihnen veranstalteten Pleinairs, einer DDR-spezifischen Form subversiver Gruppenarbeit in freier Landschaft. Zuletzt werden die „Strukturen der Kunstlenkung“ unter die Lupe genommen: Kulturabteilungen, Zentralverwaltungen und Künstlerverbände – man spürt den allgegenwärtigen bürokratischen Würgegriff, der nichts unkontrolliert lassen wollte.

Trotz der Fülle des Stoffes bietet die übersichtliche Gliederung des Buches (wozu parallel zum Text gesetzte Anmerkungen die Lektüre ungemein erleichtern) unterschiedliche Einstiegsmöglichkeiten, und im Anhang aufgeführte biographische und bibliographische Angaben bieten weitere Orientierungshilfen. Die zahlreichen begleitenden Schwarzweißabbildungen haben Zitatcharakter; sie zeichnen die Atmosphäre der Zeit nach und machen zugleich das überschaubare, persönlich geprägte Beziehungsgeflecht der Kunstszene deutlich.

Anschaulich werden die Texte auch, wenn etwa ein unmittelbarer Akteur wie der Penck-Freund und Psychologe Schweinebraden zu Wort kommt, der in den siebziger Jahren die private EP-Galerie in seiner Wohnung im Prenzlauer Berg unterhielt. Er wollte ein „Forum des Sich-Kennenlernens“ schaffen, „das Informationsmonopol des Staates unterlaufen“. Experimentelles und Westliches kamen zur Ansicht, visuelle Poesie und Fotografie, Aktions- und Konzeptkunst.

Klar, daß sich die Stasi dafür interessierte und über Jahre eine ganze Herde von Schnüfflern auf den „irren Typen“ ansetzte. Trotzdem, acht Jahre lang (bis zur Ausreise) waren zahllose Aktivitäten möglich, die auch die offiziell propagierte „Weite und Vielfalt“ hinter sich ließen.

Spätestens im Laufe dieses so unterhaltsam wie sarkastisch beschriebenen Galeristenhindernislaufes wird deutlich, daß Pauschalverurteilungen der Künstler à la Baselitz Quatsch sind: Die „Arschlöcher“ sind anderswo zu suchen. Nicht schwarzweiß, sondern grau in grau waren die Verhältnisse, die erst im kritischen Rückblick klare Konturen erhalten. Kaum bekannte Namen treten aus dem Dunkel der inneren Emigration hervor – so der „letzte Kubist, Abstrakte, Expressionist“, wie sich der ehemalige Lehrer an der Kunsthochschule Weißensee, Herbert Behrens-Hangeler, nannte, den Ursula Feist als „deutsches Künstlerschicksal“ vorstellt. Anläßlich des Formalismusvorwurfs Anfang der 50er Jahre gab der Künstler das zwiespältig-gequälte Bekenntnis ab: „Ich bin durch die Dekadenz erzogen worden. Ich sehe ein, daß es politisch falsch ist, so zu arbeiten. Da ich aber nicht sofort realistisch arbeiten kann, lehne ich es ab, an die Öffentlichkeit zu treten und optimistische Masken zu malen.“

Ende der 80er Jahre, die im Buch wohl aufgrund des zeitlich geringen Abstandes eher kursorisch vorkommen, wuchs das Widerstandspotential nicht nur unter den gelichteten Künstlerreihen, sondern auch bei Kunstwissenschaftlern. Eine Gruppe junger KritikerInnen bedrängte den Verband Bildender Künstler im Vorfeld des X. Kongresses Ende 1988. Sie schrieben: „Solange Lieschen Müller nicht die gleichen Rechte hat wie Heiner Müller, muß demnächst eine dementsprechende Reiseordnung des BVK-DDR erarbeitet und in Kraft gesetzt sowie allen Mitgliedern zur Kenntnis gebracht werden.“

Der vorliegende „Werkstattbericht“, wie die Herausgeber bescheiden formulieren (und der eines westlichen Pendants bedarf), rückt vor allem die besonderen historischen Bedingungen in den Vordergrund, die bei der Beurteilung von Kunst, wie mit Bedauern konstatiert, gerne „vergessen“ werden. Kunst ist, wie zitiert, „zuerst ausschließlich aus den Verhältnissen heraus“ zu verstehen: Betonung auf „zuerst“, denn eine ästhetische Einordnung der Kunst zu DDR-Zeiten steht noch aus. Ein Teil des Fundamentes jedenfalls liegt nun vor.

„Kunstdokumentation SBZ/DDR 1945 - 1990. Aufsätze/Berichte/ Materialien“. Herausgegeben von Günter Feist, Eckhart Gillen und Beatrice Vierneisel, DuMont Buchverlag 1996, 916 S., 78 DM