Diagnose per Nase

■ Ausstellung im Übersee-Museum präsentiert Kuriosa aus drei Jahrtausenden chinesischer Heilkunde

Die Ausstellung, die am Sonntag im Übersee-Museum eröffnet wird, kommt genau zur rechten Jahreszeit: Huichun, die „Rückkehr in den Frühling“, lautet seit Jahrhunderten das Motto der chinesischen Medizin, das den Leidenden die Wiedererlangung der Gesundheit verspricht.

Auf dieses Versprechen setzt hierzulande eine steigende Zahl von Frühlingsrückkehrern. Immer mehr Menschen wenden sich östlicher Heilkunst zu, und so verbuchte die Ausstellung „Huichun“, im Berliner Völkerkunde-Museum beheimatet, dort bereits große Publikumserfolge. Nun ist die faszinierende Sammlung medizinischer und pharmazeutischer Objekte, die weitgehend von Paul Unschuld, Sinologe, Pharmazeut und Professor für Medizingeschichte an der Uni München, zusammengetragen wurde, zum ersten Mal außerhalb Berlins zu sehen. Sie ermöglicht, flankiert von einem umfangreichen Begleitprogramm, das von Ethnologen, Sinologen, Naturheilkundlern und klassischen Medizinern bestritten wird, einen tiefen Einblick in die Jahrtausende alte chinesische Heilkunst.

Wer die Ausstellung besucht, steht sogleich mitten in ihrem Herzstück, nämlich im Verkaufsraum einer kompletten Apotheke der traditionellen chinesischen Pharmazie. Sie stammt aus Jinaxi in Mittelchina und läßt sich auf die Mitte des vorigen Jahrhunderts datieren. Vor den mit Mörsern, Fläschchen und Büchern beladenen Regalen hat der Arzt seinen Sitz, welcher traditionsgemäß als Gehilfe des Apothekers fungierte.

Der Arzt stellte die Diagnose. Dazu benötigte er, abgesehen vom Pulskissen, keinerlei Gerätschaften. Aus Pulsfühlen, aus Schauen, Reden und Riechen leitete der Arzt die Diagnose ab und bestimmte die Rezeptur, deren komplizierte Zubereitung Aufgabe des Apothekers war: Aus menschlichen (Haare, Urin...) und tierischen, vorwiegend aber aus pflanzlichen oder mineralischen Substanzen wurden unter Zuhilfenahme von Drogenschiffen, Donnergott-Hobeln, Holzpflöcken, Raspeln und Mörsern Wirkstoffe zusammengesetzt, die den Patienten als Tinktur, Pille oder Pflasteraufstrich verabreicht wurden.

Auf diese Weise entstanden Medikamente, deren Klang allein Heilung verspricht: „Rote Wunderpillen“, „ein Pulver, das die Tore durchbricht“, „Pillen mit Ginseng, Zimtrinde und Hirschgeweih“. Der ungeheure Reichtum der Ingredienzen wurzelt in einem Wissen, das über Jahrtausende, – die ersten schriftlichen Rezepturen datieren aus dem zweiten Jahrhundert vor Christus –, ständig erweitert wurde. Es geht aus von der Einteilung der Welt und ihrer Naturkräfte in Ying und Yang sowie den sogenannten „fünf Phasen“, die auf verschiedene Weisen in einer ständigen Dynamik des Sich-gegenseitig-Hervorbringens, - Überwindens und -Kontrollierens stehen.

Ziel dieser Medizin ist es, die durch äußere Kräfte oder innerkörperliche Strömungen auftretenden Disharmonien im Energiefluß des Körpers auszugleichen, besser noch, solchen Disharmonien vorzubeugen. Diesem Zweck dient auch die Akupunktur, die entgegen vielfacher Meinung kaum älter ist als 2.000 Jahre und nur langsam in China Verbreitung fand. Vom 17. bis zum 19. Jahrhundert wurde sie gar, verdammt als Scharlatanerie, verboten.

Kräuter, gymnastische Übungen, Aderlaß, Meditation und Moxibustion, das Verbrennen heilsamer Kräuter über kranken Körperstellen, gehörte weiterhin zum Katalog der medizinischen Anwendungen. Jede Apotheke warb mit eigenen Spezialiäten auf eigens gedruckten Handzetteln, Aushängeschildern und Fahnen. „Wer viel diskutiert, wird nie zum Ziel gelangen. Wer mehrere Ärzte in Anspruch nimmt, wird zugrundegehen“, heißt es auf einer dieser Fahnen aus dem 17. Jahrhundert.

Bis ins 20. Jahrhundert hinein zierten solche Fahnen die Apotheker- und Ärztestraßen der chinesischen Städte. Heute sind sie nurmehr selten zu finden. Auch der Wanderarzt, – eher ein verkaufskundiger Quacksalber –, der, die Kalebasse als Symbol der Heilerzunft am Gürtel, bei seinen Reisen über die Jahrmärkte das Gros der Landbevölkerung versorgte, verschwand mit dem ausgehenden 19. Jahrhundert.

Mit der Jahrhundertwende vollzog sich in China ein grundlegender Wandel der Medizin. Nach politischen Imageverlusten glaubte die Führungselite, allein durch die Übernahme westlicher Technologie und Wissenschaft die Krise überwinden zu können. So verdrängte die westliche Medizin selbst in entlegenen Dörfern die traditionelle Heilkunde fast völlig aus dem Alltag der Chinesen. Erst in den 50er Jahren kam es zu einer erneuten Anerkennung des Beitrags, den die traditionelle Heilkunde über Jahrtausende geliefert hatte. Heute gilt sie in China als wichtiger Wirtschaftsfaktor, denn: Heilsuchende Frühlingsrückkehrer gibt es im Westen zuhauf.

Dora Hartmann

Paul U. Unschuld: „Huichun – Rückkehr in den Frühling“, in der Ausstellung erhältlich (58 Mark)