Aprikose auf Rückzug

■ Szenen im Hamburger Castor-Camp: Alle Einsatzleiter heißen Müller

Der Landkreis ist hermetisch abgeriegelt, die Zuwege zum Hamburger Castor-Camp nahe Quickborn sind von Dutzenden von Polizeisperren abgeriegelt. Am Tag vor der letzten Etappe des Atommüllkonvois ist das Zeltlager an der voraussichtlichen Transportroute für anreisende GegnerInnen nur noch über Schleich-, Feld- und Waldwege zu erreichen. Immer wieder kommt es zu willkürlichen Festnahmen. Zwischen Dömitz und Quickborn werden am Mittag sieben CastorgegnerInnen aus Bergedorf ohne Vorwahrnung abgeführt und ins Gefangenenlager nach Neutramm gebracht.

Beide Seiten treffen letzte Vorbereitungen. Mehrmals gelingt es kleinen Truppen an unbewachten Stellen der Route, Blockaden zu errichten und Straßenabschnitte zu unterhöhlen. Während des ganzen Tages arbeiten die Reparaturtrupps, die zum Teil metertief untergrabenen Fahrbahnteile notdürftig in Stand zu setzen – bewacht von einem stattlichen Aufgebot uniformierter Beschützer. Die fieberhafte Hektik läßt kaum einen Zweifel zu, daß die sechs Atommüllcontainer hier, also über die sogenannte „Nordroute“rollen werden.

Es kommt zu Scharmützeln – Beobachtung ist unerwünscht. JournalistInnen, die mehrere ruppig durchgeführte Festnahmen auf der Strecke beobachten wollen, bekommen von der Polizei Platzverweise erteilt. Die Frage nach den Verantwortlichen läuft ins Leere: Alle Einsatzleiter heißen Müller.

Zu größten Auseinandersetzungen kommt es am Nachmittag in einem Wald nahe der voraussichtlichen Fahrtstrecke. Mehrere Hundertschaften kesseln rund 200 AtomgegnerInnen, aus deren Reihen Steine und Farbbeutel geflogen sein sollen, für Stunden ein. Der Vorwurf lautet: schwerer Landfriedensbruch. Rund 30 Eingeschlossenen gelingt es, die verblüffte Polizeikette zu überrennen und sich zu befreien. Ein Versuch, die Kette von außen zu knacken, scheitert. Im Diskurs der Initiativ-Delegierten lautet die Losung nach mehreren Diskussionsanläufen: Aprikose zieht sich zurück.

Die Stimmung im etwa 100 Zelte zählenden „Hamburger Camp“aber bleibt entspannt. Unterbrochen von wenigen Prominenten-Besuchen – Jutta Ditfurth kommt vorbei – werden Nachrichten gehört, und für die Nacht Aktionen vorbereitet. Ruhe vor dem Sturm.

Marco Carini