Die Angst des Westens, sich festzulegen, sitzt tief

■ Erst nach anfänglichem Zögern schlugen sich die Regierungen westlicher Staaten auf die Seite Jelzins, die Börsenspekulanten weltweit zeigten sich verunsichert

Warten, wer gewinnt. Das waren die allerersten Reaktionen aus dem Westen auf das, was im Laufe des gestrigen Tages in politischen Verlautbarungen von „Jelzins Coup“ zum „Moskauer Machtpoker“ versachlicht wurde. Erst als US-Präsident Bill Clinton am Dienstag abend Jelzins Schritt öffentlich unterstützte, folgte ihm Kohl, folgten ihm die EG-Regierungen und Japan. Kohl erinnerte sich erst nach einem Telefonat mit Clinton öffentlich daran, daß die Bundesregierung von Anfang an den politischen und wirtschaftlichen Reformprozeß in Rußland unterstützt habe und der Präsident die einzig demokratisch gewählte Institution Rußlands sei. Der SPD- Vorsitzende Scharping äußerte bereits zurückhaltender die Hoffnung, daß sich Jelzin im Machtkampf durchsetzt, während FDP- Fraktionschef Hermann Otto Solms' Emotionen sich auf den Wunsch beschränkten, die Situation möge „beherrscht“ bleiben.

Die Angst westlicher Regierungen, sich festzulegen und genau jene demokratischen und marktwirtschatflichen Veränderungen in Rußland verbindlich zu unterstützen, die sie selbst in Sonntagsreden so gerne beschwören, sitzt tief. Seit dem Weltwirtschaftsgipfel 1991 in London quält besonders die Repräsentanten der sieben reichsten Industrienationen (G7) das Bewußtsein, an dem August-Putsch gegen Gorbatschow mitschuldig gewesen zu sein. Damals im Juli setzten die G-7-Regierungschefs (aus den USA, Japan, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien und Kanada) verbal ausschließlich auf Gorbatschow. Sie ignorierten Jelzin als kommende Moskauer Politikergröße und schafften es nicht, sich auf ein (finanzielles) Unterstützungssignal an die Reformkräfte zu einigen.

Die Depressionen der Westler in Folge der Gorbimanie halten an, seit sie feststellen mußten, daß Gorbatschows Politik für die Sowjetunion wirtschaftlich ruinös war. In Rußland gehe alles immer nur bergab, Reformen gebe es eigentlich gar nicht, jammern die offiziell entsandten westlichen Beobachter — und ignorieren, daß neben den alten staatlichen Industriekombinaten überall im Land ein zu großen Teilen privater (und privatisierter) Handel entstanden ist. Ebenso nimmt hierzulande kaum ein Politiker öffentlich zur Kenntnis, daß der Rubel seit fast vier Monaten gegenüber dem US- Dollar nicht mehr weiter an Wert verloren hat und daß die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung keinesfalls am Hungertuch nagt.

Die Unterstützung der G7 für Jelzin erschöpfte sich seit 1991 in immer neuen Hilfsversprechungen, die von Mal zu Mal einen immer höheren Recyclinganteil aufwiesen — bis die Herrenrunde es anläßlich des Referendums im April tatsächlich schaffte, ein 50-Milliarden-Dollar-Paket zu schnüren, das nichts kostete.

Aus dem Westen tritt lediglich der Newcomer Bill Clinton ohne Wenn und Aber für die russischen Reformer ein: Jelzin komme es darauf an, das Volk in Wahlen über den künftigen Weg des Landes entscheiden zu lassen, argumentierte Clinton gestern. Die US-Regierung drängte außerdem den Kongreß, gerade jetzt die noch blockierten Hilfsmilliarden an Rußlands Regierung zu überweisen — trotz des Verlustrisikos.

Wenn in der Bundesrepublik die SPD regieren würde, könnte sich der (demokratische) US-Präsident nicht einmal mehr der zögernden Unterstützung à la Kohl sicher sein. Der außenpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Karsten Voigt, forderte im ZDF als erste Reaktion auf die Vorgänge in Moskau das Ende der Hilfe des Westens, falls der demokratische Prozeß dort unterbrochen werde, und betonte den Verstoß gegen die altsowjetische Verfassung.

Die „Im-Zweifel-für-jeden-Regierungschef“-Politik vertraten gestern außer dem SPD-Sprecher die chinesische Regierung und das Großkapital. Der Machtkampf verunsicherte die Spekulanten, sodaß an allen europäischen Aktienmärkten die Kurse um bis zu 3,1 Prozent nachgaben. Der Deutsche Aktienindex Dax sank bis zum Mittag um 1,7 Prozent. Auch in Tokio verlor der Nikkei-Index deutlich. Dagegen erfüllte der US- Dollar seine Rolle als Krisenwährung und stieg um drei Pfennig auf 1,6335 Mark. Alles warte auf den Ausgang des Machtkampfes, begründeten Aktien- und Devisenhändler die Zurückhaltung.

Neben den ängstlich abwartenden gab es gestern auch Anti-Jelzin-Reaktionen im Westen. In Großbritannien forderte der Osteuropaexperte der oppositionellen Labour-Party, Ken Livingstone, den Westen auf, Chasbulatow zu unterstützen. In Deutschland reagierte der außenpolitische Sprecher der PDS, Hans Modrow, mit „größtem Befremden und Empörung“ darauf, daß der „Staatsstreichversuch“ Jelzins zuvor den Botschaftern der wichtigsten Industriestaaten angekündigt worden sei. Das werfe ein bezeichnendes Licht auf die Absichten des Präsidenten und seiner ausländischen Partner. Donata Riedel