Anklage wegen Fahnenflucht

USA 2009 hatte der Soldat Bergdahl seine Einheit in Afghanistan verlassen, wurde von den Taliban gefangen genommen und später ausgetauscht

Nach zwei Monaten waren alle Illusionen über die Armee und den Krieg verflogen

NEW YORK taz | Zehn Monate nachdem er gegen fünf Guantánamo-Insassen ausgetauscht wurde, wird der US-Soldat und ehemalige Taliban-Gefangene, Bowe Bergdahl, in den USA wegen Fahnenflucht und Fehlverhalten gegenüber dem Feind angeklagt. Ein Sprecher der US-Armee erklärte am Mittwoch, dass der Soldat sich vor einem Militärgericht dafür verantworten müsse, dass er seine Truppe im Juni 2009 unerlaubt verlassen habe. Im Falle seiner Verurteilung droht dem 28-jährigen Bergdahl eine lebenslängliche Haft.

Bergdahls Anwalt, Eugene Fidell, reagierte auf die Anklageerhebung mit der Veröffentlichung eines Textes, in dem sein Mandant erstmals die Bedingungen beschreibt, unter denen er fünf Jahre als Gefangener der Taliban verbracht hat. Ihm wurde gesagt, dass ihm Ohren und Nase abgeschnitten und er exekutiert würde. Er wurde mit Metallkabeln verprügelt. Er war an ein Bett gekettet. Seine Augen waren verbunden und an den Handgelenken hatte er „8 bis 12“ Wunden von den Fesseln.

Die Geschichte des Soldaten Bergdahl ist fester Bestandteil der US-Wahrnehmung des Afghanistan-Krieges seit 2009. Der junge Mann aus Idaho hatte sich freiwillig zum Militärdienst gemeldet und erwartete offenbar Gutes von der US-Armee. Doch seine Illusionen überlebten im Krieg nicht lange. In einem Brief aus Afghanistan klagte er schon bald über „nicht existierende Führung“ und Mangel an gesundem Menschenverstand seiner Vorgesetzten.

Am 30. Juni 2009 – zwei Monate nach seiner Ankunft in Afghanistan – verließ er nachts seine Kampfeinheit. In der Basis ließ er seine Waffe zurück, sowie einen Zettel mit der Mitteilung, er sei mit dem Krieg nicht einverstanden. Wenig später fiel er in die Hände der Taliban.

Mit ihrer Kampagne „Free Bowe“, sorgten die Eltern und einige JungendfreundInnen dafür, die Erinnerung an ihn lebendig zu halten. Der Vater, Robert Bergdahl, ließ sich einen Vollbart wachsen, lernte Pashtu und flehte in Videos die Taliban-Kommandeure an, seinen Sohn freizulassen. Er fühlte sich von der US-Regierung alleingelassen.

Am 31. Mai vergangenen Jahres drehten die Taliban ein Video, das über die Bildschirme der Welt flimmern sollte. Es zeigt die Landung eines US-Hubschraubers in einer Berglandschaft, US-Soldaten, die zwei vermummten Männern die Hände schütteln und die den Gefangenen abtasten, bevor sie ihn in ihre Maschine führen und – weniger als eine Minute nach ihrer Landung – wieder abheben. Der Propagandafilm endet mit der Botschaft: „Komm nicht zurück nach Afghanistan“.

In Washington trat am selben Tag Präsident Barack Obama zusammen mit den Eltern Bergdahl im Rosengarten des Weißen Hauses vor die Kameras und erklärte, die USA würden ihre kämpfenden Männer und Frauen nie im Stich lassen. Gleichzeitig begannen Republikaner eine Kampagne gegen den US-Präsidenten wegen Bergdahls Befreiung.

Parallel dazu meldeten sich in den Medien andere Soldaten aus Bergdahls Einheit zu Wort. Sie nannten ihn einen „Verräter“ und „Deserteur“. Und warfen ihm vor, seine unerlaubte Entfernung von der Truppe sei für den Tod mehrerer Soldaten bei der Suche nach ihm verantwortlich. Militärische Ermittler begannen unmittelbar mit der Prüfung einer Anklage. Für den Vorwurf, Bergdahls Flucht habe andere US-Soldaten das Leben gekostet, haben sie allerdings keine Belege gefunden.

Der befreite Bergdahl wurde in eine Kaserne in Texas gebracht. Zunächst zur medizinischen Versorgung, dann zur Arbeit in der militärischen Verwaltung. So weit bekannt, ist er bis heute nicht nach Idaho gefahren. Und hat auch seine Eltern nicht getroffen.

Im Kongress hält die Empörung über den Gefangenenaustausch an. Der Vorwurf, der Gefangenenaustausch sei ein schwerer Fehler gewesen, bekam neue Nahrung, als bekannt wurde, dass einige der fünf ehemaligen Guantánamo-Insassen aus Katar neuen Kontakt zu Terroristen gesucht hätten. Doch die Sprecherin des US-Außenministeriums, Jen Psaki, erklärte am Mittwoch in einem Interview mit dem rechtskonservativen Sender Fox News: „Ob es sich gelohnt hat? Unbedingt!“ DOROTHEA HAHN