Reklame statt Kunst

Schon zu DDR-Zeiten diente ein U-Bahnsteig unter dem Alexanderplatz als Ausstellungsfläche für Künstler. Doch deren Fortbestand ist bedroht

VON TIM ACKERMANN

Fanfarenstöße, die U-Bahnen ankündigen, vergoldete Schienen oder ein Mitarbeiter des Servicepersonals, der einen Meter über dem Boden schwebt: Viele Berliner erinnern sich mit Vergnügen an die künstlerischen Interventionen, die bisher im Rahmen des Projekts „U2 Alexanderplatz“ stattgefunden haben. Doch in diesem Jahr haben die Künstler möglicherweise zum letzten Mal ihre Werke dem Strom der Passanten ausgesetzt. Denn der neue Pächter der Ausstellungsflächen im U-Bahnhof, die VVR Wall GmbH, will den Platz angeblich für Werbekunden zur Verfügung stellen.

Die Firma Wall plant im Rahmen eines Konzepts des „Station Brandings“, den U-Bahnhof Alexanderplatz ihren Kunden als komplett bespielbare Werbefläche anzubieten. Im Falle einer Vermietung würde diese Regelung auch für den Bahnsteig der U 2 gelten, der in den vergangenen zweieinhalb Jahrzehnten der Kunst vorbehalten war. Die Neue Gesellschaft für Bildende Kunst (NGBK) hat als Trägerin von „U2 Alexanderplatz“ in den letzten Wochen mit der VVR Wall GmbH über eine Fortführung des Projekts verhandelt.

Lediglich eine mögliche künstlerische „Zwischennutzung“ habe Wall angeboten, solange kein Bedarf durch Werbekunden bestehe, heißt es seitens der NGBK. „Sobald Wall einen Kunden findet, der den Bahnhof für Werbezwecke mieten will, müssten wir Ausstellungen innerhalb von zwei Monaten abbauen“, sagt Leonie Baumann, Geschäftsführerin der NGBK. Diese „Kompromisslösung“ sei für sie nicht akzeptabel. Nicht nur wegen der fehlenden Planungssicherheit. „Wir wollen auch diese unmittelbare Nähe von Kunst und Werbung nicht mittragen“, so Baumann. Die NGBK möchte wenigstens für ein weiteres Jahr den Bahnsteig der U 2 allein und uneingeschränkt nutzen, um Wall so von der Qualität der künstlerischen Arbeit zu überzeugen. „Unser Angebot würde die Dauer des Kunstprojekts lediglich auf neun Monate im Jahr einschränken“, sagt dagegen Beate Stoffers, Sprecherin des Mutterunterunternehmens Wall AG. Man sei weiter in Verhandlung und zuversichtlich, dass es eine einvernehmliche Lösung gebe. Zur Frage, ob der geschätzte dreimonatige Auftritt von Werbekunden auf dem U-2-Bahnsteig an einem Stück stattfinden würde, wollte Stoffers keine Angaben machen.

Seit dem Mauerfall wird der öffentliche Wettbewerb zum Alexanderplatz-Projekt unter dem Motto „Kunst statt Werbung“ ausgeschrieben. Der jetzige Konflikt hat durchaus Symbolcharakter. „Es geht uns um die Frage, inwiefern wir in der Stadt Räume haben wollen, in denen einfach keine Werbung stattfindet“, sagt Leonie Baumann.

Solange der Bahnsteig der U 2 in der Verantwortung der BVG-eigenen Außenwerbefirma VVR Berek lag, fanden sich für die Kunst dort immer wieder Fürsprecher. Erst nachdem die VVR Berek im vergangenen Herbst an die Firma JCDecaux und dann im Mai 2007 als VVR Decaux an die Wall AG verkauft worden war, begannen die neuen Pächter den „Kunstbahnsteig“ in ihre Kalkulation einzubeziehen. Seitdem wird die NGBK mit dem Argument der finanziellen Einbußen durch fehlende Werbeeinnahmen konfrontiert.

Das mögliche Ende für den „Kunstbahnsteig“ kommt zu einem Zeitpunkt, an dem er als Ausstellungsraum über die Grenzen Berlins hinaus Beachtung erfährt. Das liegt auch am Bekanntheitsgrad der Künstler, die mittlerweile dort ausstellen: Außer Ayse Erkmens Fanfaren waren 2006 zum Beispiel Christine Hills Tafeln mit Kunstweisheiten im „ostalgischen“ Design und Thomas Hirschhorns Plüschtier-und-Grabkerzen-Altar für Ingeborg Bachmann zu erleben. Ein Massenpublikum kam so mit Kunstwerken in Berührung, die sonst auf Biennalen oder in größeren Gruppenschauen zu sehen sind.

Die Kunst im U-Bahnhof Alexanderplatz hat dabei eine lange und durchaus umstrittene Tradition: 1958 wurde hier die erste Plakatausstellung mit dem Titel „Frieden der Welt“ gezeigt. „Es war die einzige Galerie in der DDR, die offen für ein großes Publikum war“, sagt die Kuratorin Barbara Rüth, die den „Kunstbahnsteig“ noch aus Vorwendezeiten kennt. Unter der Obhut des Verbandes Bildender Künstler (VBK) diente der U-Bahnhof lange als Propagandaplattform für das DDR-Regime. Ab 1986 konnte die AG „Stadtbild“ im VBK vorsichtig gegen die Parteilinie steuern. Eine offen kritische Plakatausstellung mit dem Titel „Denken an Revolution“ wurde noch im Oktober 1989 verboten. „Die Künstler, die subversiv arbeiten wollten, mussten ihre Selbstbestimmung Stück für Stück erringen“, sagt Rüth.

So ist der „Kunstbahnsteig“ auch ein Musterbeispiel für den langsamen Demokratisierungsprozess in der DDR. Ein Beispiel zudem, das ins vereinte Deutschland hinübergerettet wurde. Dass das Projekt jetzt kommerziellen Interessen weichen soll, wirkt befremdlich. Viel Zeit für eine „einvernehmliche Lösung“ bleibt nicht mehr. Denn dieser Tage müsste die NGBK eigentlich die Gelder für ein weiteres Jahr „Kunstbahnsteig“ vom Senat abrufen: Finanziert wird das Projekt von der Senatskanzlei für Kulturelle Angelegenheiten mit immerhin 80.000 Euro im Jahr.