Kleines Mädchen in Schwerin verhungert

Für vernachlässigte Fünfjährige aus Plattenbausiedlung kommt Rettungsversuch eines Notarztes zu spät. Sozialminister Sellering (SPD) kritisiert mangelnde soziale Kontrolle. Sozialamt hatte Familie besucht. Mutter hat noch einen Säugling

In den vergangenen Jahren hat es in Norddeutschland eine ganze Reihe von Fällen gegeben, in denen Kinder von ihren Eltern schwer vernachlässigt oder misshandelt wurden. Vor gut einem Jahr fand die Polizei in einem Bremer Kühlschrank die zerstückelte Leiche des zweieinhalbjährigen Kevin. Bei der Obduktion stellten Gutachter 24 Knochenbrüche an der Leiche fest. Kevins drogenkranker Vater ist angeklagt, den Jungen misshandelt und getötet zu haben. Im Februar 2006 fand die Feuerwehr in Hamburg den dreijährigen Elias in einer vermüllten Wohnung. Das vollgekotete Kind saß alleine vor dem Fernseher. Im März 2005 erstickte in Hamburg die stark unterernährte Jessica an ihrem Erbrochenen. Die arbeitslosen Eltern hatten die Siebenjährige in einem dunklen, ungeheizten Zimmer wie eine Gefangene gehalten. Im Februar 2004 starb in Schleswig-Holstein ein elf Monate altes Baby. Die Eltern hatten ihren Sohn verhungern lassen.  KNÖ

VON GERNOT KNÖDLER

Ein fünfjähriges Mädchen ist in Schwerin verhungert und verdurstet. Gegen die Eltern werde wegen „Tötung durch Unterlassen“ ermittelt, teilte ein Staatsanwalt mit. Der Vater hatte am Dienstagabend den Notarzt gerufen, der das Mädchen mit Rötungen am Hals in ein Krankenhaus einwies. Dort starb es kurz nach der Einlieferung. „Ich war sehr erschrocken, dass es so etwas geben kann“, sagte ein Klinik-Sprecher. Heute soll die Leiche obduziert werden.

Die 23-jährige Mutter des Kindes lebt zusammen mit dem 26-jährigen Vater in der Plattenbau-Siedlung Lankow. Sie hat noch ein weiteres Kind: einen Säugling. Der Schweriner Sozialdezernent Hermann Junghans (CDU) räumte vor Journalisten ein, dass das Jugendamt anonyme Hinweise auf Probleme in der Familie gehabt habe. Diesen sei auch nachgegangen worden. Zwei Mitarbeiter des Jugendamtes hätten die Familie vor einiger Zeit aufgesucht. Nach Prüfung der Akten sei nicht ersichtlich, dass sie gegen die Vorschriften, wie mit Hinweisen auf eine Gefährdung des Kindeswohls umzugehen sei, verstoßen hätten.

Um solche Fälle zu verhindern, will das Schweriner Sozialministerium dem Kabinett in Kürze einen Gesetzentwurf zur Förderung des Kindeswohls vorlegen. „Damit wollen wir erreichen, dass zukünftig alle Kinder an den wichtigen regelmäßigen ärztlichen Früherkennungsuntersuchungen teilnehmen“, sagte Sozialminister Erwin Sellering (SPD).

Darüber hinaus sei die Einrichtung einer Kinderschutzhotline in Planung. Die Mitarbeiter dieser Hotline würden Anrufe – auch anonym – annehmen und Hilfe organisieren. Damit sei es aber nicht getan. „Ich erwarte auch, dass Menschen hingucken und reagieren, wenn auffällige Dinge in ihrer Nachbarschaft passieren“, sagte Sellering.

Die Anonymität in Plattenbausiedlungen trägt offenbar dazu bei, dass Problemfälle oft nicht erkannt werden. „Wenn wir der Frau auf der Straße begegnet wären, hätten wir sie gar nicht erkannt“, berichtete eine im Aufgang wohnende Rentnerin. Auch einer 58-jährigen Frau aus dem Nebeneingang war die Familie nie aufgefallen. „Wissen Sie, wenn man Arbeit hat, dann bekommt man nichts aus der Nachbarschaft mit“, sagte sie.

Andere Nord-Länder, in denen in jüngster Zeit Kinder vernachlässig und misshandelt wurden (siehe Kasten) haben bereits reagiert. Gestern verabschiedete der schleswig-holsteinische Landtag ein Kinderschutzgesetz, das zum 1. April 2008 in Kraft treten soll. „Kinderschutz braucht eine Kultur des Hinschauens, Kinderschutz braucht Verantwortungsgemeinschaften“, sagte Sozialministerin Gitta Trauernicht (SPD). Beides fördere das Gesetz.

In Schleswig-Holstein sollen die Jugendhilfe und das Gesundheitswesen künftig vernetzt werden, so dass Problemfälle früher erkannt werden. Falls es bereits zu Gewalt und Vernachlässigung gekommen ist, sollen Jugendhilfe, Schule, Polizei, Staatsanwaltschaft und Gerichte besser zusammenarbeiten, um die Kinder schützen zu können.

Das Land will die gesetzlich verankerten, aber freiwilligen Frühuntersuchungen verbindlicher machen. Zu jeder dieser U-Untersuchungen soll das Landesfamilienbüro die Eltern künftig einladen. Werden die Kinder nicht zur Untersuchung gebracht, werden die Eltern ermahnt. Reagieren sie trotzdem nicht, soll sich das Jugend- oder Gesundheitsamt mit den Eltern in Verbindung setzen. „Für die meisten Eltern wird das Einladungswesen lediglich als hilfreiche Erinnerung dienen“, sagte Trauernicht.

Auf eine ähnliche Regelung hat sich die große Koalition in Bremen im April verständigt. Der Hamburger Senat ist noch nicht so weit. „Wir arbeiten noch dran“, sagte ein Sprecher der Sozialbehörde. Eine von den Nord-Ländern angestrebte bundeseinheitliche Regelung war am Bundesrat gescheitert.

Der Hamburger Senat hat allerdings beschlossen ein zentrales Schülerregister anzulegen, so dass die Einhaltung der Schulpflicht besser gewährleistet werden kann. Jeder der sieben Stadtbezirke hat inzwischen einen Kinderschutz-Beauftragten. Außerdem sind vakante Stellen bei den für den Kinderschutz zuständigen Allgemeinen Sozialen Diensten (ASD) besetzt worden.